Ulis Culinaria

Venezia

La Serenissima Repubblica di Venezia

stellte von 697 bis 1797 eine bedeutende militärische und wirtschaftliche Macht im Mittelmeerraum dar. Sie zog sich von der Lagune am Nordende des Mare Adriatico an dessen Ostküste bis zu den ionischen Inseln und Kreta, zeitweise bis Zypern.

La Serenissima

828 raubten Seefahrer aus Venedig die Reliquien des Evangelisten Markus in Alexandria. Seitdem ist San Marco der Stadtpatron. Der geflügelte Löwe, sein überliefertes Attribut, ziert nicht nur das Stadtwappen, sondern ist als architektonisches Schmuckelement an vielen Fassaden der Lagunen-stadt zu entdecken, nicht nur an der weltberühmten Piazza San Marco. Unter dem Schutz des Markuslöwen entwickelten die Republik und ihre Hauptstadt auch das Selbstverständnis als La Serenissima, was im Deutschen meist altertümlich-höfisch mit Die Durchlauchtigste übersetzt wird. Serenità bezeichnet – da mag der Löwe noch so grimmig dreinschauen –  eine Haltung abgeklärter, heiterer Gelassenheit.

Eine solche Selbstsicherheit gründete auf dem Reichtum, den die Repubblica di San Marco, so eine weitere offizielle Bezeichnung, durch territoriale Eroberungen und im Handel anhäufte. Vor allem der Gewürzimport aus dem Osten war ein einträgliches, von den Dogen und ihren Familien kontrolliertes Geschäft.

Die internationale Historie hat jedoch erstaunlich wenige Spuren in den Küchengewohnheiten Venedigs hinterlassen.

Nach wie vor ist die cucina veneziana von dem geprägt, was das Meer, die Lagune und die Ländereien des Veneto zu bieten haben. In den palazzi hat man die im Grund einfache, ländliche Küche zwar immer wieder verfeinert, wobei man sich auch schon mal an höfischen Sitten der Monarchien in Frankreich, Österreich und anderen orientierte. Aber eigentlich ist man den Wurzeln treu geblieben: einfache, regionale, vor allem gute Produkte, die so zubereitet werden, dass sie ihren Charakter bewahren.

Sicher gehörte eine einfache Fischsuppe auch schon zum Speiseplan der ersten Fischerfamilien, die sich in vorchristlichen Zeiten auf den Inseln der Lagune niederließen. Heute bereitet man an privaten wie an gastronomischen Herden Brodino di pesce alla veneziana zu. Eine bunte Mischung von Fischen und Meeresfrüchten, die der Tagesfang gerade ergab, werden mit diversem Gemüse zu einem passierten Fischsud (brodo bezeichnet Fleisch-, Fisch- oder Gemüsebrühe) verkocht.

Brodino di pesce

Dahinein gibt man zusätzlich sanft pochierte Fischstücke, und kurz vor dem Genießen bestreut man den gefüllten Teller mit Croutons sowie Parmesanspänen. Typisch für das Brackwasser der laguna veneziana ist z.B. der ghiozzo, ein kleiner Knochenfisch, der im Dialekt genannt wird. Mit Reis kommt er, wenn er nicht im brodino landet, als risoto de gò auf den Tisch. Auch moléche, verschiedene Krebsarten, die in Italien granchi heißen, sind im brodino beliebt.

Sarde in saor

Die Fischer brauchten auf ihren oft mehrtägigen Fangzügen haltbare Nahrung. Kleine Sardinenfische wurden gegrillt oder gebraten und mit süßlichen Gemüsezwiebeln, die man in Olivenöl und Essig dünstete, agrodolce, süßsauer eingelegt. Eine nahrhafte Konserve für unterwegs. In den bacari, den für Venedig typischen kleinen Weinstuben, bekommt man das alte Gericht heute unter dem Namen sarde in saor, manchmal verfeinert mit Pinienkernen, als antipasto zu einem Glas Wein serviert.

Baccalà

Nicht aus der Lagune stammt ein Gericht, das aber in Venedig seit den Zeiten beliebt ist, in denen die Serenissima noch eine Großmacht im Mittelmeerraum darstellte: der → Stockfisch. Der getrocknete und meist gesalzene Kabeljau kam schon im frühen Mittelalter mit norwegischen Fischern in den Süden, die ihn gegen Meersalz eintauschten. Über lange Zeit kontrollierte Venedig Produktion und Handel des weißen Goldes, wie das Salz manchmal noch heute genannt wird.

Die Italiener nahmen den Trockenfisch als stoccafisso oder baccalà in ihren Speisezettel auf. 

Für Baccalà mantecato alla veneziana wird der Stockfisch zunächst gewässert, um den Salzgehalt zu verringern. Anschließend wird er mit reichlich Olivenöl, Knoblauch und Petersilie in Milch erhitzt. Mit dem Kochlöffel wird das Fischfleisch zerrieben, bis eine glatte Masse entsteht. Den Begriff mantecato bzw. mantecare hat der venezianische Dialekt aus dem Spanischen entlehnt: dort heißt die Butter manteca, das Ergebnis ist also eine butterweiche Masse. Das Stockfischpüree wird am liebsten auf gebratene Scheiben von polenta (s.u.) gestrichen und als Vorspeise genossen. Der baccalà mantecato ist das venezianische Pendant zur brandade de morue aus dem südfranzösischen →Nîmes.

Sepe col nero

Seppie, kleine Tintenfische, werden gerne mit Kräutern und Knoblauch in Olivenöl und Weißwein geschmort. Wenn man die Tinte hinzufügt, werden daraus sepe col nero.

Beliebt sind sie auch mit Fadennudeln als spaghetti al nero die seppie.

Spaghetti al nero di seppie

Risi e bisi

Neben der Fischerei bekamen die Inseln um Venedig schon früh Bedeutung als Gemüsegärten der Stadt (→Sant’Erasmo). Weitere Lebensmittel lieferte das Umland jenseits der Lagune wie z.B. den Spargel aus →Cimadolmo. Mit den Erbsen aus →Lumignano und dem Reis, der überall im wasserreichen Veneto angebaut wird (→Grumolo d.Abb.), bereitet man auch in Venedig risi e bisi zu.

Am 25. April, dem Jahrestag von San Marco, trafen sich früher die Honoratioren der Stadt im Palazzo Ducale (Dogenpalast) am Markusplatz zu einem großen Festessen, bei dem die Erbsen als Frühlingsboten gefeiert und nach der Devise ogni riso un biso (für jedes Reiskorn eine Erbse) zur bis heute beliebten Suppe kombiniert wurden.

Fegato

Überhaupt gehört Reis, zusammen mit dem Mais, im Norden des Landes eher zu den Grundnahrungsmitteln als die süditalienische →pasta. So bildet Mais in Form einer polenta auch die übliche Beilage zu Fegato alla veneziana. Kalbsleber wird in feine Streifen geschnitten, in Butter angebraten und mit milden Zwiebeln und salvia (Salbei) in Wein geschmort. Im venezianischen Dialekt heißt das Gericht figà àea Venessiana. Seit altersher schätzte man die Leber der verschiedenen vierbeinigen und geflügelten Nutztiere als äußerst nahrhaftes Lebensmittel. Plinius, →Apicius und andere antike Feinschmecker empfahlen vor allem Gänsehaltern, ihre Tiere mit Feigen zu mästen, weil das die Leber zur Delikatesse werden lässt. Im Lateinischen heißt die Frucht ficus (it. fico), die so erzeugte Leber nannte man ficatum. Daraus wurden das italienische fegato und das französische foie.

Polenta

Polenta ist in ganz Norditalien eine häufige Beilage zu Fleisch und Fisch. Mais, zu mehr oder weniger feinem Grieß gemahlen, wird unter ständigem Rühren in Wasser oder Brühe gekocht. Je nach Flüssigkeitsmenge wird daraus ein lockeres Püree oder ein fester Brei, der sich nach dem Abkühlen in Scheiben schneiden und in Öl oder Butter knusprig braten lässt. Der Begriff leitet sich ab vom lateinischen Wort puls bzw. pultes, womit aus grob gemahlenen Getreidesorten wie farro (Dinkel, →Monteleone) oder grano sarazeno (Buchweizen) gekochter Brei gemeint war. Apicius empfahl, festen, mit Milch gekochten pultem aus Weizen in Öl zu braten und mit Honig zu beträufeln. Der Mais löste die alten Getreide als beliebtesten Polenta-Rohstoff ab, nachdem er im 15./16.Jh. aus der Neuen Welt eingewandert war.

Fritola / fritella veneziana

Was den →Berlinern der Berliner oder →Mainzer Fassenachtern der Kreppel, ist Liebhabern des carnevale di Venezia die Fritola veneziana. Auch hier werden aus Weizenmehlteig geformte Bällchen in Öl ausgebacken, also fritiert. Daher ihr Name, der auch als Frittella veneziana gebräuchlich ist. Zusätzlich kommen meist Rosinen und Pinien- oder Mandelkerne in den Teig. Die ebenfalls mit Fruchtmus oder diversen Cremes gefüllten und puderzuckerweißen fritole sind außer zum Karneval auch in der Weihnachtszeit (natale) beliebt.

Crème und Sauce vénétienne

Die Crème à la vénitienne ist eine französische Küchenerfindung, eine Geflügelrahmsuppe mit kleinen Spinatravioli.

Auch die Bezeichnung Sauce vénitienne für eine mit püriertem Spinat, Kerbel und Estragon aufgeschlagene Sauce Hollandaise stammt eher aus der klassischen Küchensprache als aus der Lagunenstadt. In solchen Benennungen lassen historische kulinarische Verbindungen zwischen den Küchen in Versailles und in den Palästen Venedigs grüßen. Die Sauce Vénitienne begleitet mit der →Seezunge Lady Hamilton eines der bekanntesten Fischgerichte der klassischen Küche.

1931 eröffneten der Amerikaner Harry Pickering und Giuseppe Cipriani aus Verona unweit der Piazza San Marco ein Nachtlokal, das sie Harry’s Bar tauften. Mit ausgefallenen Cocktails und kleinen Speisen entwickelte sich die Bar zum Treffpunkt internationaler künstlerischer Prominenz. Filmgrößen wie Orson Welles oder Literaten wie Ernest Hemingway verkehrten hier und machten Harry’s Bar mitunter zum Sujet in ihren Werken. Berühmt geworden sind auch zwei kulinarische Spezialitäten, bei deren Namensgebung die Inhaber Affinität zur Bildenden Kunst bewiesen.

Harry's Bar

So ist mittlerweile ein Klassiker unter den Cocktails der Bellini, für den pürierter weißer Pfirsich mit Prosecco oder Champagner aufgegossen und mit Zuckersirup gesüßt wird. Namensgeber ist der bedeutende Maler der venezianischen Frührenaissance →Giovanni Bellini, bis heute eine Symbolfigur in der Kulturgeschichte der Lagunenstadt. Das satte Goldgelb des Drinks soll Cipriani an die Farbe des Mantels in einem Heiligenportrait Bellinis erinnert haben.

Nach einem Zeitgenossen Bellinis taufte Cipriani 1950 ein kleines Gericht, das heute fest zur internationalen Vorspeisenküche zählt, nämlich nach dem Maler Vittore →Carpaccio.
V.Carpaccio, St.Martin (Detail)

Ein gern gesehener Gast in Harry’s Bar war die venezianische Gräfin Amalia Nani Mocenigo. Deren Arzt hatte ihr empfohlen, auf gegartes Fleisch zu verzichten. Also schnitt Cipriani von einem feinen rohen Rinderfilet hauchdünne Tranchen, breitete sie fächerförmig auf einer Platte aus und beträufelte sie mit einer hellen Zitronenmayonnaise, die er auch für Sandwichs und andere kleine Gerichte verwendete. Den Kontrast des roten Fleisches zur weißen Sauce assoziierte der Wirt offensichtlich mit dem Farbenspiel, für das der Maler berühmt war und das damals gerade in einer großen Carpaccio-Werkschau im Palazzo Ducale zu bewundern war.

Carpaccio

carne cruda

So wird Cipriani oft als Erfinder des Carpaccio genannten Gerichts angesehen. Es hat allerdings ein viel älteres kulinarisches Vorbild im carne cruda aus →Alba, wo man das rohe Fleisch mit einer Zitronenvinaigrette mariniert und mit piemontesischen Trüffeln serviert.

Mittlerweile wird die Bezeichnung Carpaccio für alle möglichen Gerichte verwendet, bei denen ein Lebensmittel, ob Fleisch, Fisch, Gemüse oder was auch immer, in dünne Scheiben geschnitten und mit unterschiedlichen Saucen garniert wird. Meist spielt dabei allerdings der namensgebende Rot-Weiß-Kontrast des venezianischen Künstlers keine Rolle mehr.