Ulis Culinaria

Sant'Erasmo

Wenn neue Artischocken (Cynara cardunculus subsp. scolymus) angepflanzt wurden, beraubt man sie zuweilen ihrer ersten Blütenknospe an der Spitze der jungen Pflanzen, sobald sie wenige Zentimeter Größe erreicht hat. Das schafft den bis zu 20 darunter angesetzten Blüten, die sonst verkümmern würden, Platz zur Entwicklung, was die Erntemengen erhöht. Ein ähnliches Verfahren, bei dem gewisse Pflanzenteile in der Wachstumsphase zugunsten anderer herausgenommen werden, nennt man, beispielsweise bei Tomaten, ausgeizen. Die Blütenknospen werden mitsamt den sie umgebenden Blättern herausgeschnitten, die im Zentrum der Pflanze noch nicht viel Licht abbekommen haben und deshalb, ähnlich wie Chicoré, noch fast weiß sind. Sie bringen im Salat oder als zartes Gemüse eine leichte Bitternote mit.

Artischocken-Feld auf Sant’Erasmo. Im Hintergrund die Friaulischen Alpen.

Carciofo violetto

di Sant'Erasmo

Die Blütenknospen selbst sind ebenfalls so zart, dass man sie roh genießen kann. Man halbiert sie allenfalls der Länge nach, selbst das Entfernen des artischockentypischen Heus vom Blütenboden entfällt, da es noch nicht ausgebildet ist. In Italien heißen sie castraure (von castrare für kappen) und entstammen vorwiegend der Sorte Carciofo violetto.

Das Kappen geschieht im April, sodass die frischen Castraure nur während zwei, drei Wochen in dieser Zeit zu bekommen sind. Aber als Konserve sott’olio, in feinem Olivenöl, sind sie durchaus ein ganzjähriger Genuss.

aus dem Gemüsegarten Venedigs

Besonderen Ruf genießt die Castraura bzw. der Carciofo violetto di Sant’Erasmo, benannt nach der zweitgrößten Insel in der Lagune von Venezia. Schon seit den Anfängen der Besiedelung entwickelte sich Sant’Erasmo, direkt an der nördlichen Zufahrt zur Lagune gelegen, zum Obst- und Gemüsegarten für die Bewohner von Venedig. Die fruchtbaren Böden des Eilandes bestehen zum Teil aus schlammiger Erde, die zur Vertiefung von Kanälen ausgegraben wurde. Die Bewässerung der Felder mit dem leicht salzhaltigen Lagunenwasser wirkt sich geschmacklich auf die Produkte aus. Neben den castraure sind auch die spareselle berühmt, grüner Spargel mit sehr dünnen Stangen.

Als Vorspeise werden die articiochi, wie sie von Venezianern auch, ähnlich wie im Deutschen, genannt werden, einfach mit Zitronensaft beträufelt und mit Salz und Pfeffer gewürzt. Dazu passen roher Schinken, Parmesan und ein kräftiger Weißwein. Oder in pastella, einen dünnflüssigen Teig getaucht und in heißem Öl ausgebacken – ein Genuss!

Das →Consorzio del Carciofo Violetto di Sant’Erasmo veranstaltet eine jährliche festa, bei der die besondere Artischocke und andere Produkte der Garteninsel gefeiert werden.

Von →Slow Food wurden die castraure als presidio eingestuft.