Ulis Culinaria

Mainz

Der Mainzer Schinken

wiederentdeckt in Frankreich

Da staunte Hiltrud Gill-Heine nicht schlecht: Die Mainzer Stadtführerin begleitete anfangs der 1990er Jahre eine Gruppe französischer Touristen durch die Dom- und Gutenberg-Stadt, und bald wurde sie gefragt, wo man ihn denn nun kaufen könne, diesen berühmten

Jambon de Mayence,

den Mainzer Schinken.

Frau Gill staunte wohl auch etwas peinlich berührt, denn ihr selbst war diese Berühmtheit völlig unbekannt.

Und damit nicht genug – die Gäste trällerten ihr auch noch ein altes französisches Kinderlied vor, in welchem der Mainzer Schinken die Hauptrolle spielt:

Un jambon de Mayence / voilà qu’ça commence déjà bien! / Nous allons faire bobance / à ce festin, il ne manquera rien / car j’aperçois … deux jambons de Mayence … trois jambons …

(Ein Mainzer Schinken / das fängt doch schon gut an! / Wir werden so richtig reinhauen / an nichts wird es bei dem Fest fehlen / denn ich seh‘ sie schon … zwei Mainzer Schinken … drei Mainzer Schinken …)

Das Zählreim-Liedchen gehört in Frankreich bis heute zur mathematisch-musikalischen Früherziehung, wenn auch die meisten kleinen Gallierinnen und Gallier mit dem Begriff jambon sicher mehr anzufangen wissen als mit dem Namen Mayence.

Noch mehrere Male wurde →Hiltrud Gill nach der in Frankreich besungenen Spezialität gefragt. Die Schmach, darauf keine befriedigende Antwort geben zu können, wollte sie nicht auf sich sitzen lassen und begab sich auf die Suche.

In Mainz selbst fand sie zunächst nur vage Hinweise auf einen Schinken, der wohl in ganz Rheinhessen produziert wurde, dem Rheindreieck Worms-Mainz-Bingen.

Französische Kurgäste kamen seit jeher aus der Nachbarstadt Wiesbaden über die Rheinbrücke in die Mainzer Gasthäuser, wenn sie die in der Wiesbadener Gastronomie verlangten Kurstadt-Preise nicht bezahlen wollten. In Mainz konnten sie dagegen landestypische Speisen und die beidseits des Rheins angebauten Weine zu zivilen Preisen genießen. So lernten sie auch den rheinhessischen Schinken kennen, von dem sie dann in ihrer Heimat als dem jambon de Mayence schwärmten.

Und eine ganze Zeitlang wanderten die Schinken vom Mainzer Bahnhof aus regelmäßig zu den →Halles de Paris, von wo die Mainzer Gastronomie im Gegenzug Fisch, Meeresfrüchte und andere französische Spezialitäten bezog. Mainz war zu Beginn des 19.Jhs. immerhin Hauptstadt des Département du Mont-Tonnère (Donnersberg) als Teil des von Frankreich annektierten linksrheinischen Landes. Der kulinarische Warenaustausch fand mit dem Ausbruch des 1. Weltkrieges ein Ende und der Schinken geriet in Vergessenheit.

Auch deutschen Kindern versucht man den Spaß an Zahlen kulinarisch-musikalisch zu vermitteln:

Man zählt z.B. die Siebensachen auf, die man zum Kuchenbacken braucht.

Auf 1,2,3,4,5,6,7 kocht die alte Hexe Rüben …

Oder man zählt ein (zwei, drei …) belegte Brot‘ mit Schinken / mit Ei, im Refrain gibt’s dazu eisgekühlte Coca-Cola (bei den Toten Hosen eisgekühlten Bommerlunder …!).

Das französische Kinderlied führte Hiltrud Gill denn auch zu französischen Quellen. Fündig wurde sie bei einem der bekanntesten Dichter des Landes: François Rabelais lässt schon um 1534, also lange vor der napoleonischen Besatzung des Rheinlandes, seinen Roman-Riesen Gargantua schwärmen, dass sein Vater Grandgousier …

avait d’ordinaire une bonne réserve de jambon de Mayence et de Bayonne, force langues de bœuf fumées, des andouilles en abondance, quand c’etait la saison …

(… wenn es an der Zeit war, für gewöhnlich einen guten Vorrat an Schinken aus Mainz und →Bayonne da hatte, reichlich geräucherte Rinderzungen und →Kuttelwürste im Überfluss …).

Honoré Daumier, Fütterung Gargantuas

Im Stadtarchiv von Metz, an der Eisenbahnlinie Mainz – Paris gelegen, entdeckte Gill die bisher einzigen schriftlichen Hinweise auf eine Rezeptur. Neben der für praktisch jeden →Rohschinken üblichen Salzung und Lufttrocknung zeichnete sich der Mainzer demzufolge durch den zusätzlichen Einsatz von Wein oder Weinbrand und von Wacholder sowie durch eine Räucherung aus. 

Werbung eines französischen Metzgers für seinen gut mainzerisch hergestellten und gut essbaren Schinken – aber nicht, ohne dazu etwas zu trinken!

Schließlich fand sie im Mainzer Stadtteil Mombach den jungen Metzgermeister Peter Walz, den sie mit ihrer Schinken-Neugier ansteckte. Nach vielen, wegen der notwendigen Ruhe- und Reifungszeiten langwierigen Versuchen gelang es Walz, auf der spärlichen schriftlichen Grundlage aus Metz den Meenzer Schinke quasi neu zu erfinden. 

Welche Gewürze er nun für das seit 2007 käuflich erwerbbare Resultat – neben Salz und Wacholder – einsetzt, bleibt freilich ebenso sein Geheimnis wie die Rebsorte des Weines, in den der Schinken eingelegt wird, sowie Details zum Räucherverfahren.

Aber: köstlich ist er, der neue/alte Meenzer Schinke/Jambon de Mayence, da muss man kein Geheimnis draus machen …!

Foto: Walz

Kleine Schinken-Etymologie

Meenzer Kreppel

Die deutsch-französische Geschichte des Mainzer Schinkens / Jambon de Mayence hat auch eine sprachliche Entsprechung, die sich erst auf den zweiten Blick offenbart.

Das deutsche Wort Schinken geht, wie auch Schenkel, auf das indogermanische skeng zurück. Damit war die krumme, gebogene Form des Oberschenkelknochens von Schlachttieren wie Schwein, Rind oder Schaf gemeint bzw. die gesamte mit diesem verbundene Fleischpartie. Im Mittelhochdeutschen wurde daraus skinko, von da aus war es zum heutigen Wort nicht mehr weit. Beim englischen Metzger bekommt man eine Haxe vom Kalb oder Schwein als shin, das schottisch-gälische skink verrät die gleiche Etymologie (→Cullen). Gebräuchlicher ist allerdings die Bezeichnung ham.

In der romanischen Sprache Französisch hat sich das lateinische Wort gamba für das Bein zu jambe gewandelt. Der Suffix –on bedeutet bei vielen französischen Begriffen eine Vergrößerung (im Gegensatz zur Verkleinerungs-Endung -et/ette). Jambon meint also den größeren oberen Teil des tierischen Beines, aus dem der Schinken entsteht. Im Deutschen ist der lateinische Ursprung noch in dem alten Streichinstrument Gambe erkennbar, das zum Spielen auf den Oberschenkel gesetzt wird und deshalb auch Kniegeige genannt wird.

Der aus Weizenmehl in Schmalz gebackene →Berliner wird in der Fastnachts-Hochburg Mainz vor allem an den närrischen Tagen, der Fassenacht gegessen. Auf Meenzerisch heißen die oft mit Fruchtkonfitüre gefüllten und mit Zucker bestäubten Krapfen Meenzer Kreppel. Die Maskerade-Freunde in →Venezia backen mit den fritola ähnliche süße Pfannkuchen zum carnevale.

Helau ! ! !