Ulis Culinaria

Gragnano

Die Gemeinde im Großraum Napoli, nur ein paar Kilometer südlich von Pompei, nimmt in der landesweiten italienischen Nudeltradition einen besonderen Platz ein.

Nach einer Hungersnot im Königreich Neapel entwickelten Müller in Gragnano erste Ansätze einer industriellen Pasta-Produktion, indem sie Maschinen zur Herstellung unterschiedlichster Varianten des Grundnahrungsmittels einsetzten. Allen voran standen – und stehen bis heute – die maccheroni (eingedeutscht Makkaroni*). So wurden die mangiafoglia (Blätter-Esser), wie die hungernden, von Salat- und Gemüsepflanzen lebenden Napolitaner mitleidig-spöttelnd genannt wurden, nach und nach zu mangiamaccheroni (Makkaroni-Esser).

Pasta di Gragnano

(∗) Die in Deutschland oft als Makkaroni verkauften, ca. 30cm langen, dünnen Röhrennudeln heißen in Italien bucatini.

In Italien bezeichnet man mit maccheroni alle möglichen Nudeln, insbesondere aber die kurzen, mehr oder weniger gebogenen Röhrennudeln, wie sie hier der zweite Löffel von unten zeigt.

Der sprachliche Ursprung liegt bei einem uralten griechischen Suppengericht mit Mehlklößchen als Einlage, das makaria genannt wurde.

Auf dieses Wort gehen auch die vor allem aus der französischen Pâtisserie bekannten süßen →macarons zurück, im Deutschen Makronen genannt.

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Das lateinische Wort pastus bedeutete Futter, und zwar zunächst das, mit dem die Nutztiere ernährt wurden. Pascere beschreibt diese Aufgabe, d.h. der pastor, der Hirte, füttert die Tiere und führt sie auf den pastio, das Weideland.

Neben der Viehhaltung lernte der Mensch, manche Gräser des Weidelandes durch gezielte Auswahl und Züchtung zu dem zu machen, was wir heute als Getreide bezeichnen. Die Bedeutung von pastus als Viehfutter weitete sich auf die menschliche Nahrung aus. Die früheste Form der Verarbeitung bestand im Zerstampfen und Mahlen der Getreidekörner, die man in Wasser (oder auch mit der Milch der Weidetiere) zu Brei kochte oder, mit weniger Flüssigkeit, zu Teig verknetete und zu →Fladenbrot buk. Durch natürliche Hefepilze aus der Luft begann ein solcher Teig zu gären, was zu einem wesentlich luftigeren und vor allem bekömmlicheren Brot führte. Der Sauerteig war geboren.

Und nach und nach entstanden all die anderen Teigarten, die im Bäcker- und im Konditorenhandwerk bis heute diese köstliche Vielfalt bieten.

Pasta ist zu einem Sammelbegriff für Teig geworden. Der Ur-Begriff pastus ist auch noch in der italienischen pasticceria (Konditorei) erhalten (in der französischen pâtisserie wird das s vor dem t durch den accent circonflexe ^ ersetzt). Unter dem Plural paste kauft man in der pasticceria alle möglichen Kleingebäcke, die man bei uns Teilchen oder Kaffeestückchen nennt. Hergestellt wird all das von der pasticciera (Konditorin) und dem pasticciere (Konditor).

Die meisten Begriffe der italienischen Brotbäckerei dagegen werden vom lateinischen Wort panis abgeleitet. Der/die panettiere/-a (Bäcker/-in) backt seine/ihre Brote in der panetteria. Auch manche süße Backware steht in dieser sprachlichen Ableitung wie der →panettone oder das →panforte.

Formen-Spiel

Die Formen, die im Lauf der Jahrhunderte in Italien für Pasta erfunden wurden, sind so vielfältig wie die Gerichte, die man mit den Nudeln zubereitet. Jede Region, manchmal einzelne Dörfchen haben so ihre eigene Spezialität. Manche Formen haben je nach Region unterschiedliche Namen, was die Verwirrung noch steigert.

Dabei ist die Formgebung nicht nur ein Ausdruck von ästhetischer Phantasie. All die geraden oder gebogenen, längeren oder kürzeren, flachen oder gewölbten, rundlichen oder eckigen, glatten oder gerillten Teilchen haben, neben der Sättigung, eine gemeinsame Hauptaufgabe

Sie sollen möglichst viel von der Sauce aufnehmen, die bei den allermeisten Nudelgerichten im Spiel ist. Je nachdem, ob es um eine cremig gebundene oder um eine eher dünnflüssige Sauce geht, ob sie viel oder wenig feste Anteile  hat, schwört jeder auf genau den einzig richtigen Pasta-Typus. Aber nur selten auf den selben. Dazu ist die Auswahl viel zu groß. 

al dente!

In der kulinarischen Literatur gibt es verschiedene Systematiken, die einen Überblick über diese Fülle geben sollen.

Das einfachste Kriterium ist das Rohmaterial: Der allergrößte Teil aller Pasta-Produkte wird aus semola di grano duro (Grieß von →Triticum durum, Hartweizen) hergestellt. Dieser ist besonders geeignet, nach entsprechender Kochzeit das bei jeder italienischen Pasta gewünschte Mundgefühl des al dente, der bissfesten Konsistenz zu gewährleisten. 

In der deutlichen Minderheit sind Nudeln aus farina (Mehl) von grano tenero (Weichweizen), aus anderen Getreidearten sowie pasta all’uovo, Eiernudeln (wie z.B. in →Campofilone).

Das Mehl aus Triticum aestivum, dem Weichweizen, nimmt man hier, in der Gegend um Neapel, vor allem für den Teig der Mutter aller Pizzen, der →pizza napoletana.

fresca vs. secca

Auch an der Produktion von Pasta ist die Industrialisierung nicht vorbeigegangen. Viele Nudelformen – siehe unter al bronzo! – lassen sich von Hand nicht herstellen. Deshalb werden auch in Pasta-Land die meisten Nudeln als pasta secca (getrocknete Nudeln) in den Verkauf gebracht.

Trotzdem schwören viele Pasta-Liebhaber auf pasta fresca, frisch und möglichst kurz vor der Zubereitung gemachte Nudeln. Das betrifft vor allem lange Nudeln, für die der Teig zu einer dünnen sfoglia ausgewalzt und dann in unterschiedlichen Breiten geschnitten oder mit gezackten Rädchen ausgerändelt wird. Dabei sind die inzwischen auch bei uns bekannten Maschinchen mit der Handkurbel eine gute Hilfe.

Und bei →pasta ripiena, bei gefüllten Nudeln, hat die Eigenproduktion den Vorteil, dass man genau weiß, was da so in den tortellini, ravioli, cappelletti & Co. drin ist …!

Ein durchaus akzeptabler Kompromiss sind paste fresce aus kleinen Betrieben, die man im Einzelhandel und vor allem auf Märkten findet.

lunghe vs. corte

Experten unterscheiden, wenn man einmal die paste ripiene außer acht lässt, nach der Länge der Nudeln. Zu den paste lunghe (lange Nudeln) zählen beispielsweise spaghetti, tagliatelle, vermicelli oder linguine. Gerne werden sie für den Verkauf zu paste in nidi, zu Nudelnestern aufgerollt.

Vermicelli-Nester
orecchiette

Dagegen werden rigatoni, farfalle, fusilli, penne und einige mehr als paste corte bezeichnet. Unter diesen kurzen Nudeln bieten manche der Sauce sogar einen kleinen Hohlraum als Versteck: Conchiglie bilden Meeresmuscheln ab, orecchiette kleine Ohrmuscheln, und ditali sind, übersetzt, die Fingerhütchen aus der Schneiderstube.

lisce vs. rigate

penne lisce

Hinsichtlich der Oberfläche hat man bei etlichen Sorten, ob lang oder kurz, die Wahl zwischen glatt und gerillt. Denn auch die Strukturen dienen nicht der Verzierung, sondern bieten den unterschiedlichsten Saucen Halt auf dem Weg vom Teller in den Mund. Beispielsweise penne, die kurzen, schräg geschnittenen Röhrennudeln, sind als penne lisce (glatt) oder als penne rigate (gerillt) im Angebot. Bei den rigatoni steckt die Rillenstruktur schon in der Sortenbezeichnung.

penne rigate

al bronzo

Viele Pasta-Formen entstehen in der estrusione, im Strangpress-Verfahren. Wenn die speziell geformten Lochscheiben, durch die der Nudelteig dabei gepresst wird, aus Bronze bestehen, bekommt die Pasta eine etwas aufgerauhte Oberfläche. Da auch dies der innigen Verbindung mit der Sauce hilft, schwören viele auf pasta trafilata al bronzo!

Und besonders gut passt zu den Nudeln, welche Version auch immer, eine salsa, die aus den schmackhaften pomodori des nahegelegenen →San Marzano zubereitet wird.

pasto e pranzo

Entsprechend der ursprünglichen Bedeutung des lateinischen pastus (siehe oben) bezeichnet man die gesamte italienische Mahlzeit als pasto.

Traditionell beginnt der Tag mit dem pasto del mattino, der Morgenmahlzeit. Dieses Frühstück wird auch (prima) colazione genannt und beinhaltet, ähnlich wie bei uns, ein heißes Getränk wie (Milch-)Kaffee, Schokolade oder Tee sowie Brot oder Süßgebäck mit süßem Aufstrich, also Konfitüre, Honig und ähnliches.

Die zweite Mahlzeit ist das pasto di metà giornata, das Mittagessen. Das pranzo, die Hauptmahlzeit des Tages, beinhaltet mehrere Gänge (piatti, wörtl. Platten/Teller). 

Ab 18 Uhr kommt das pasto serale, das Abendessen, meist cena genannt.

Die zunehmende Trennung von Arbeits- und Wohnort hat, vor allem in städtischen Regionen (nicht nur in Italien), dazu geführt, dass sich die Funktion der cena mit eher leichter Kost auf die Mittagszeit verlagert hat. Dafür ist die mehrgängige Hauptmahlzeit, zu der sich traditionell die ganze Familie mittags am tavolo di pranzo, dem Esstisch, einfand, in die Abendstunden gerückt.

il primo piatto

Wann auch immer: Eine vollständige Mahlzeit besteht, nach den antipasti (Appetithäppchen vor dem Essen), aus dem primo piatto (erster Gang/Vorspeise), dem secondo piatto (zweiter bzw. Hauptgang mit Fisch oder Fleisch und Gemüse), einem dolce (süßer Nachtisch) und/oder frutta (Obst), evt. formaggio und zum Abschluss caffè und/oder digestivo als Verdauungshilfe.

Die Pasta kommt nun meistens beim primo piatto zu ihrem großen Auftritt. Drei Kostüme hat sie zur Auswahl:

  • Vor allem kleine Nudelformen kommen oft als Einlage einer gehaltvollen, würzigen Brühe auf den Tisch, als pasta in brodo. Also eine Kombination aus zuppa bzw. minestre und pasta.
  • Am häufigsten wird die pasta asciutta serviert. Asciugare bedeutet trocknen. In diesem Fall ist damit gemeint, dass die bissfest gegarte Pasta entweder im Sieb abgegossen wird oder direkt aus dem Kochwasser gefischt, abgetropft und zur Salsa/zum Sugo gegeben wird. In Italien wartet grundsätzlich die Sauce auf die Nudeln, nicht umgekehrt! Oft gibt man sogar noch ein paar Löffelchen des Kochwassers an die Sauce, um ihr mit der darin enthaltenen Stärke zusätzlich Bindung zu verleihen. Die Pasta asciutta hat sich ausserhalb Italiens, auch bei uns, zum Hauptgang verselbständigt und wird auf den Speisekarten italienischer Restaurants – genauso wie die Pizza – in einer eigenen Rubrik angeboten. Dort findet man auch die dritte Darreichungsform, 
  • die pasta al forno. Am bekanntesten ist die →lasagna, aber auch →cannelloni, rigatoni und andere Formen werden gerne mit diversen Zutaten und mit formaggio grattugiato, geriebenem Käse, im Ofen (it. forno) überbacken.

Ein pasticcio ist ein Auflauf, bei dem schon mal alle möglichen Zutaten wild durcheinander mit Nudeln vereint werden.

Wenn dir aber ein Italiener deine getane Arbeit mit einem

che pasticcio!

quittiert, wirft er dir →redensartlich Pfuscherei vor.

Und er sagt dann vielleicht noch zu allem Überfluss, du säßest ganz schön

nei pasticci,

im Schlamassel,

du hättest dich da schließlich selbst hineingeritten

(cacciarsi in un pasticcio)

Dann bleib doch ganz gelassen:

e allora?

na und?

Nachdem der neapolitanische König Ferdinando II die Nudelmacher der Stadt im Jahr 1845 mit der exklusiven Belieferung des Hofes in Napoli beauftragt hatte, bekam Gragnano den Ehrentitel

Città dei maccheroni.

Seinerzeit war das Straßenbild der Stadt, wie auf dem nebenstehenden Foto um 1900 zu sehen, noch von langen Gestellen geprägt, auf denen die frischen Nudeln zum Trocknen aufgehängt wurden.

Die hiesige pasta wird mit Wasser hergestellt, das im Gebiet von Gragnano aus natürlichen Quellen fließt, nachdem es auf seinem langen Weg durch tiefe Felsschichten gefiltert wurde.

Città della pasta

Für die pastifici di Gragnano, die Nudelmacher aus Gragnano, ist jedenfalls klar, dass – neben ihrer persönlichen Kunstfertigkeit! – auch das besondere Wasser die besondere Qualität ihrer Nudeln hervorbringt.

Heute verdient ein Großteil der Bevölkerung von Gragnano und Umgebung seinen Lebensunterhalt in einer der rund 100 Nudelfabriken. Also nicht ganz ohne berechtigten Stolz nennt sich die Stadt Città oder Patria della pasta. Und die

Pasta di Gragnano

trägt seit 2013 das →IGP-Siegel der EU.