Ulis Culinaria

Familie Stroganow

ab 14.Jh., Russland

Das kulinarisch kostbarste Fleisch des Rindes (und anderer Schlachttiere) ist die Lende bzw. das Filet. Zum einen nehmen diese beiden länglichen Muskelstränge beidseits der Lenden-Wirbelsäule, deren französische Bezeichnung filet übersetzt Schnur bedeutet, nur einen sehr geringen Teil des verwertbaren Tierkörpers ein.

Zum anderen wird der Musculus psoas, wie ihn Anatomen nennen, bei Schlachtvieh nur wenig beansprucht und bleibt deshalb sehr zart. Beim homo erectus, dem aufrecht gehenden Menschen, ist er für Drehung und Beugung des Rumpfes zuständig, Bewegungen, die Vierfüßer wie Rind, Schwein & Co. nur selten ausführen.

Das dickere hintere Teil des Lendenstücks vom Rind (frz. bœuf, engl. beef), der Filet-Kopf, wird Doppel-Lendensteak oder auch Chateaustück genannt, da aus ihm der für zwei oder mehr Personen ausreichende, nach François-René →Chateaubriand benannte Braten zubereitet wird. Oder das Fillet of beef Prince →Albert. Die mittlere Partie ergibt runde, tournedos genannte Medaillons zum Kurzbraten (→Rossini), oder auch kompakte Braten wie das Filet →Colbert. Und hauchdünne Scheiben aus diesem Stück werden roh als →Carpaccio serviert.

Die Filet-Spitze, der allerzarteste vordere Teil, bietet das Material für eines der berühmtesten Rindfleisch-Gerichte der Haute Cuisine, das Filet de Bœuf Stroganow (je nach Übertragung aus der kyrillischen Schrift auch Stroganov oder Stroganoff geschrieben).

Filetspitzen

Filet de Bœuf

Fillet of Beef

Stroganow

das Rezept

Die Filetspitze wird demzufolge in kleine Würfel oder Streifen geschnitten und in der Pfanne sautiert, sodass das Fleisch außen schön Farbe annimmt, innen aber blutig bleibt. Getrennt werden Zwiebeln angeschmort und mit Fleischbrühe oder demi-glace und Wein abgelöscht. Ganz zum Schluss werden Senf und – typisch für die slawische Küche – saure Sahne untergerührt. In dieser Sahne-Senf-Sauce wird das Fleisch direkt vor dem Servieren noch einmal erwärmt. Und hier liegt der heikle Punkt des eigentlich so simplen Rezeptes: Denn wenn jetzt dem Fleisch zu viel Hitze zugefügt wird, gart es durch und wird zu Lederriemchen.

Diese Zubereitung ist in zweierlei Hinsicht ungewöhnlich:

Erstens widerspricht es zunächst jeglicher Grundregel der Fleischküche, ein so zartes Stück wie das Rinderfilet in kleine Streifen zu schneiden. Denn jeder Schnitt führt unweigerlich zu Verlust von Fleischsaft, erst recht, wenn Hitze ins Spiel kommt. Zweitens ist die russische Küchenkultur, in der der große Ofen zum Heizen und Kochen das häusliche Zentrum bildete, eher für Braten von kompakten Stücken bekannt.

Trotzdem hat im Jahr 1871 die russische Autorin Jelena Molochowetz in ihrem Haushaltsratgeber Podarok molodym chosajkam (Geschenk an junge Hausfrauen) als erste ein schriftliches Rezept für Gowjadina po-strogonowski veröffentlicht, wörtlich Rinderfilet nach Art von Stroganow.

das Rinderfilet

Vermutlich haben sich hier Einflüsse der cuisine française in die russische Küche eingeschlichen, die historischen russisch-französischen Verbindungen sind ja auch kulinarisch hinlänglich bekannt. Im Prinzip erinnert das Gericht an ragout, das in der französischen Kochkunst mit unzähligen Varianten jahrhundertealte Tradition hat. Deswegen verwundert es auch nicht, dass es der französische Koch Charles Brière war, der in St. Petersburg arbeitete und das Bœuf Stroganov als Beitrag zu einem Kochwettbewerb 1891 nach Paris brachte. Von dieser Gelegenheit aus fand das Gericht seinen festen Platz in der anspruchsvollen internationalen Gastronomie.

Der große →Escoffier nahm es in seinen Guide culinaire auf, im Larousse gastronomique werden die Fleischstreifen vor dem Sautieren über Nacht mariniert, dann mit Cognac flambiert und mit Champignons vereint. Diese Kombination mit Pilzen hat sich inzwischen als Standard eingebürgert, ebenso wie das Aromatisieren der Sauce mit Tomatenmark und evt. einem Schuss Weinessig. Viele weitere berühmte Köche haben sich das Rezept mit kleinen persönlichen Abwandlungen zu eigen gemacht. Etliche Kochbücher empfehlen noch andere Zutaten wie beispielsweise kleingewürfelte Essiggurken. In der Art der Zubereitung und Zusammenstellung erinnert das Rezept stark an das ebenso berühmte Zürcher Geschnetzelte, zu dem Kalb- statt Rindfleisch genommen wird.

In Deutschland wird gerne der am TV-Herd dilettierende Schauspieler Clemens Wilmenrod genannt, der als Pionier des deutschen Koch-Fernsehens in den 1950er Jahren das Filet Stroganow erstmals in dem noch jungen Medium präsentierte.

Zum Bekanntheitsgrad trug auch der Roman-Agent Thomas Lieven aus dem Bestseller Es muß nicht immer Kaviar sein (Johannes Mario Simmel, 1960) bei. Er serviert das Filet de Bœuf Stroganoff nach einem russischen Borschtsch und bringt damit einen russischstämmigen Kompagnon zur Mitwirkung an einem Millionen-Nachkriegsgeschäft.

In welchen individuellen Spielarten das Rezept auch immer zubereitet wird: Die Zutaten, die die Filetspitzen zu Filetspitzen Stroganow machen, sind Zwiebeln und Champignons, die saure Sahne und der Senf.

die Stroganows

Es ist kaum möglich, als Namensgeber eine bestimmte Person dieses Namens zu identifizieren. Die russische Kaufmanns-Familie Stroganow war durch den Salzhandel und bei der wirtschaftlichen Erschließung der Bodenschätze im sibirischen Osten des Zarenreiches seit dem 16. Jh. zu Wohlstand und politischem Einfluss gekommen und zu alldem in den Adelsstand erhoben worden.

Familienwappen der Stroganows

alter Geldadel

Als Namenspaten für das Filetgericht werden u.a. die Grafen Grigorij Alexandrowitsch und Sergej Grigorjewitsch Stroganow genannt, die im 18.Jh. zeitweise in Frankreich lebten. Der französische Privatkoch von Pawel Alexandrowitsch Stroganov (1774-1817), ein gewisser André Dupont, soll schon vor Jelena Molochowetz das Gericht nach seinem Arbeitgeber benannt haben.

es ist angerichtet!

Der kabarettistische Musiker Friedrich Hollaender erklärte das Entstehen und die Benennung des geschnetzelten Filet-Gerichtes in seiner satirischen Revue Es ist angerichtet (1958) mit einer Szene, in der ein Großfürst Stroganoff seinen Freunden anhand einer rohen Rinderlende demonstriert, was er mit dem Liebhaber seiner Gattin gemacht hat:

Und mit dem Messer hei-juchhe!

Sticht Stroganoff in das Filet!

Und kreuz und quer und hin und her …,

sieht garnicht wie Filet aus mehr!

Ohne Lücke haut er es in Stücke

voller Wut

Und nachdem er es derart zugerichtet hat, soll sein Koch dann noch ein erstaunlich schmackhaftes Frikassee aus dem Filet gezaubert haben.

Die in der dritten Zeile des Zitats beschriebene Vorgehensweise sollte allerdings bei ernst gemeinter Vorbereitung des Fleisches unbedingt vermieden werden. Denn nur, wenn die Streifchen quer zu den Fleischfasern geschnitten werden, kann dem Gast ein Filet de Bœuf Stroganow garantiert werden, das auf der Zunge zergeht!