* 1838 Moskau, † 1883 Jalta
Das russische Zarenreich und Frankreich, mal Monarchie, mal République, standen sich über die Jahrhunderte bis zum 1.Weltkrieg wechselweise als Erzfeinde gegenüber oder pflegten enge freundschaftliche Beziehungen. Das ist auch an unzähligen Beispielen aus Kunst und Kultur ablesbar. Und natürlich ebenso an den Speisekarten der beiden Länder. Ganz im Sinne des großen →Escoffier, der das Kochen als ebenbürtige Kunstform neben Malerei, Musik und Literatur postulierte.
Die Gartenseite des Restaurants Ermitage, um 1906
Den russischen Begriff malossol (малосольные) kennen die meisten Feinschmecker wohl am ehesten als Qualitätsbezeichnung auf den Deckeln von Kaviar-Döschen. Er bedeutet wenig (malo) Salz (sol), der Stör-Rogen enthält also nur 3 bis 4% seines Eigengewichts an Salz. Das bringt zwar geringere Haltbarkeit, dafür wird der feine Eigengeschmack der Fischeier nicht überdeckt. Kaviar Malossol gilt deshalb als besonders hochwertig.
In der russischen Kulinarik wird die Konservierungsform malossol auch auf Gemüse, Fleisch oder Fisch angewandt.
Eine zweite Konservierungsmethode hat in der russischen Küche ebenfalls eine lange Tradition. Die Milchsäuregärung, die bei uns fast nur noch mit →Sauerkraut und →Essiggurken auf den Tisch kommt, wird bis heute in Russland mit allerlei anderen Gemüsearten praktiziert. Die kommen in der russischen Küchentradition meistens in heißen Gerichten zum Einsatz. Kalte Zubereitungen, also Salate im weitesten Sinn, wurden erst durch französische Köche, die von russischen Adligen angeheuert worden waren (als einmal wieder alles Französische en vogue war …), als eigenständiger Gang in die Menüfolge eingefügt.
Eine bunte Mischung von meistens gekochtem, in der Originalversion aber sauer eingelegtem Gemüse bietet auch ein Salat, der international als Salat Olivier bekannt ist. Die Benennung dieser opulenten Kaltspeise geht auf ihren Erfinder zurück. Über die nur 45 Jahre des Lebens von Lucien Olivier ist nicht allzuviel bekannt, und selbst darüber gibt es noch widersprüchliche Angaben. Manche halten ihn für den Sohn eines französischen Kaufmanns, der sich in Moskau niedergelassen hatte, andere schreiben ihm belgische Abstammung zu.
Als gesichert gilt, dass er anfangs der 1860er Jahre als Koch im neu gegründeten Restaurant Ermitage in Moskau anfing und dort überwiegend französische Küche anbot. Man liest manchmal, er sei eigentlich auf den russischen Vornamen Nikolai getauft worden, habe sich aber dann als Koch in Lucien umbenannt, um den frankophilen Charakter seiner Gastronomie zu untermauern.
Auch der Name des Restaurants, der eigentlich Einsiedelei bedeutet, stammt aus dem Französischen. Schon wenige Jahre später war Olivier Chef des Hauses. 1867 wurde er als Eigentümer des Эрмитаж (ermitasch) in die Zweite Kaufmannsgilde eingetragen. Das historistische Restaurant-Gebäude mit seinem parkähnlichen Garten hätte gut auch als Stadtpalais ins Pariser Straßenbild gepasst. In seiner opulenten Inneneinrichtung und natürlich mit seinem Speisen- und Getränkeangebot verkörperte es jene feudal-französische Lebensart, die im Reich von Zar Alexander II., nach Abschluss des Pariser Friedens von 1856, vielen Adligen als Vorbild diente.
Das Restaurant wurde nach der Revolution 1917 geschlossen, heute beherbergt das Gebäude eine Theaterschule.
Der Salat, den Lucien Olivier etwa ab 1860 den Gästen der Ermitage servierte, war zunächst kein Rezept der russischen Volksküche. Das Gemüse rangierte auf Platz zwei hinter dem Fleischanteil. Der bestand vorrangig aus →gelinotte, also aus Wildgeflügel wie Hasel-, Reb- und Birkhuhn oder Fasan. Wildbret war durch das Jagdprivileg dem Adel vorbehalten und wurde praktisch ausschließlich in warmen Zubereitungen serviert. Der Reiz des Neuen bestand darin, das Wildfleisch vorher zu garen und es dann, erkaltet und in Streifen oder Würfelchen geschnitten, mit der Gemüse-Macédoine zu vereinen. Eingelegtes Malossol-Gemüse und Wild gab es vor allem in der kalten Jahreszeit, weshalb das Gericht anfänglich auch als Wintersalat angeboten wurde. Da Köche zudem noch mehr als heute auf saisonale und regionale Produkte beschränkt waren, variierte die Zusammensetzung ständig.
(majonesni sos)
Doch eine feste Komponente machte den Wintersalat schnell zum салат Оливье (salat Oliwje): Lucien machte den Salat mit einer Sauce an, die wohl irgendwo zwischen Vinaigrette und →Mayonnaise lag, jedenfalls etwas Französisches, für russische Gaumen Neues.
In der Ermitage verkehrten natürlich internationale Gäste, die von dem Salat mit der besonderen Sauce so begeistert waren, dass sie das Küchenpersonal am heimischen Herd aufforderten, das Gericht nachzukochen. Genauso wie die gastronomische Konkurrenz scheiterten solche Versuche, nicht zuletzt, weil Lucien Olivier das Saucenrezept bis zu seinem Tod niemandem verriet. Trotzdem hat das Werk den Schöpfer bis heute überlebt. Und ist nicht nur in ganz Europa, sondern praktisch weltweit bekannt.
Das Restaurant Ermitage wurde zwar nach der Oktoberrevolution 1917 als Relikt des Feudalismus geschlossen. Aber zahllose Köchinnen und Köche in Moskau und anderen wichtigen Metropolen Russlands, der UdSSR und wieder Russlands boten und bieten ihre Version des Olivier an. Kaum ein Kochbuch in russischer Sprache kommt ohne ein Original-Rezept für den Olivier-Salat heraus. Seit vielen Jahrzehnten gehört der Salat unbedingt zum Festmahl am Neujahrstag, das in seiner Bedeutung etwa unserem Weihnachtsmenü gleichkommt. Und da bei solchen Festmahlen meist eine Menge Gäste zusammenkommen, serviert man den Olivier-Salat in den größten Schüsseln, die das Service hergibt. Im russischen Volksmund gebraucht man, um eine Riesenmenge von irgendetwas zu bezeichnen, den Ausdruck тазик Оливье (Tasik Oliwjeh), eine Wanne Olivier!
Nach wie vor findet man unterschiedlichste Zusammensetzungen. Als gemeinsame Basis für das Rezept lassen sich allenfalls die drei Komponenten Kartoffeln, Gemüse und Fleisch ausmachen – und natürlich die mayonnaiseartige Sauce, wie unterschiedlich sie auch immer ausfallen mag. Manchmal kommt Olivier eher wie ein erweiterter Kartoffel- oder auch mal Nudelsalat daher. Das Fleisch stammt mittlerweile nur noch selten vom Wild und wird gerne ersetzt durch verschiedene Wurst- und Schinkensorten. Es gibt auch Varianten mit Fisch, Krebs, Hummer, Muscheln und anderem Wassergetier. Vegetarier lassen einfach das Fleisch weg, und Veganer ersetzen die Mayonnaise (die eh meistens fertig aus dem Glas kommt) halt durch eine eierlose Alternative.
Olivier bezeichnet im Französischen den Olivenbaum. Ich habe zwar noch kein Rezept für einen Salat Olivier mit Oliven entdeckt – aber warum eigentlich nicht?
Während in Russland alle Feinschmecker von der französischen Delikatesse schwärmten, wurde das Gericht außerhalb des Zarenreiches, wenn nicht als Olivier-Salat, als Russischer Salat bekannt. Nicht zuletzt Auguste Escoffier hat die Salade russe zum Küchenklassiker erhoben. In seinem Standardwerk Le Guide Culinaire von 1910 heißt es kurz und bündig:
Salade Russe: – En parties égales: carottes; navets; pommes de terre; haricots verts; petits pois; truffes; champignons cuits; langue écarlate ou jambon maigre; chair de queue de homard; câpres; cornichons; saucisson; filets d’anchois.
Lier le tout à la sauce Mayonnaise. – Décor à volonté avec des éléments de la salade, betterave et caviar.
Die Übersetzung in der deutschen Ausgabe des Kochkunst-Führer von 1910:
Russischer Salat: Zu gleichen Teilen: Karotten, weiße Rüben, Kartoffeln, grüne Bohnen, Erbsen, Trüffeln, Pfeffergurken, Champignons, Pökelzunge, Hummer, mageren Schinken, Würstchen und Sardellen. Alles mit Mayonnaisesauce binden. Verschiedene Verzierung mit den Bestandteilen des Salats, roten Rüben und Kaviar.
Mit dem Kaviar und der roten Bete, die man ja von der Borschtsch, der russischen Volkssuppe kennt, greift Escoffier zumindest zwei landestypische Elemente auf, auch wenn sie nur zur Deko dienen. Eine Salade Olivier allerdings sucht man bei ihm vergebens.
Trotzdem: