Nein, weder als Diplomat des 19.Jhs. noch als Namenspate für kulinarische Kreationen genießt Karl Robert von Nesselrode heute noch breite Bekanntheit. Sein Vater und etliche andere Mitglieder der Adelsfamilie aus dem Bergischen Land hatten ihm den Weg in den diplomatischen Dienst vorgezeichnet. Nachdem er schon im zarten Alter von 17 Jahren durch Vermittlung seines Vaters eine Anstellung als Ordonnanz im engsten Umkreis des russischen Zaren Paul I. fand, und obwohl der deutschsprachig ausgebildete junge Mann sich beim Erlernen von Fremdsprachen schwertat, stieg er in der diplomatischen Hierarchie des Russischen Reiches schnell auf.
Als Delegationschef vertrat er beim Wiener Kongress von 1814/15 die russischen Interessen. Offensichtlich zur vollsten Zufriedenheit seines Zaren, inzwischen Alexander I., denn der ernannte ihn 1816 zum Außenminister. Seine stramm monarchistische Haltung bewies er bei der Aushandlung mehrerer Friedensverträge, zuletzt des Pariser Friedens nach dem Krimkrieg 1856. Bei den sog. Monarchenkongressen von Aachen (1818), Troppau (1820), Laibach (1821) und Verona (1822) suchte er mit den europäischen Adelshäusern gemeinsam nach Mitteln gegen die aufkommenden revolutionären Bewegungen. 1845 erklomm er mit dem Amt des russischen Kanzlers die höchste Sprosse seiner Karriereleiter.
Der Wiener Kongress – der laut dem Schriftsteller Robert Musil vor allem tanzte! – hat neben seiner politischen Bedeutung auch die →Wiener Küche europaweit bekannt gemacht. Aber etliche der ausländischen Diplomaten hatten sich während der zehn Monate in der österreichischen Hauptstadt mit eigenem Hausstand und Personal häuslich eingerichtet: Schließlich galt es ja, nicht zuletzt durch großzügige Einladungen die Verhandlungspartner und -gegner zu beeindrucken. Und in den diplomatischen Küchen waren die besten Köchinnen und Köche Europas willkommen.
Etliche in diesem Lexikon beschriebene Speisen verdanken ihren Namen einem solchen Verhältnis zwischen Koch und Arbeitgeber. Wenn nämlich der Koch eine besondere Zubereitung, die im Idealfall auch noch eine – oder sogar DIE – Lieblingsspeise seines Arbeitgebers war, nach eben jenem benannte, war das, nach heutigem Sprachgebrauch, eine win-win-Situation:
Der vornehme Dienstherr mehrte seinen Ruf als großartiger Gastgeber, und der Koch, der eine derart geadelte Spezialität erfunden hatte, empfahl sich für höhere Aufgaben. Nicht selten warben sich die feinen Familien ihre Köchinnen und Köche gegenseitig ab.
Nur wenige Quellen erwähnen den Koch des Diplomaten Nesselrode namentlich. Der Larousse gastronomique nennt ihn schlicht Monsieur Mouy.
Ihm wird der
Pudding Nesselrode
zugeschrieben, ein Dessert, das auf einer crème anglaise basiert. Diese süße, meist vanillierte Grundsauce aus Eigelb, Zucker und Milch wird mit pürierten Kastanien, →Korinthen und →Smyrna-Rosinen vermengt. Dazu kommen Orangeat-Würfelchen und eingemachte, in Madeira gebadete Kirschen. Zum Schluss wird reichlich crème →Chantilly untergehoben.
Vereinzelt findet man den Pudding im englischsprachigen Bereich, in dem man mit →pudding noch etwas ganz anderes benennt, auch als
Nesselrode Pie.
Die praktisch gleichen Zutaten verwendet er für die
Bombe Nesselrode.
Die Masse wird zunächst in einer Schüssel, die in Eis steht, heruntergekühlt und dann in der Form durchgefroren.
Obwohl der Guide culinaire von Altmeister Escoffier nach wie vor zur Standardlektüre ambitionierter Köchinnen und Köche gehört, sieht man die Nesselrode-Bezeichnungen nur noch äußerst selten auf gastronomischen Speisekarten.
Das liegt zum einen sicher daran, dass der doch recht schwere, gehaltvolle Pudding nicht mehr so recht zu den Maßstäben einer gesundheitsbewussten Ernährung passt.
Aber auch die Zutat, die das Rezept zum Nesselrode-Rezept werden lässt, zählt nicht mehr zum Grundrepertoire der heutigen Küche.
Das typische Element der nach Nesselrode benannten Rezepte sind die Kastanien in pürierter Form. Zu Nesselrodes Zeiten waren die Früchte von →Castanea sativa, der Ess- oder Edelkastanie, noch ein geschätztes Lebensmittel vor allem im Winter. Inzwischen sind sie vor allem als wärmende Knabberei auf Weihnachtsmärkten beliebt, wo sie mit ihrem typischen Röstaroma das Flair bereichern.
In der Küche sind sie etwas aus der Mode gekommen, wohl auch, weil sie, anders als Nüsse, roh nicht einsetzbar sind und das Schälen eine zeitraubende Arbeit ist. Manchmal erspart einem der Handel diese Mühen mit dem vakuumverpackten Angebot von sauber geschälten und bereits vorgekochten Maronen. In der Gastronomie kommen Kastanien am ehesten zusammen mit Wildfleisch auf den Teller. Dazu passen auch die folgenden Beispiele.
Es ist nicht überliefert, warum Monsieur Mouy gerade Kastanien als typische Zutat für Nesselrode-Rezepte gewählt hat. Die Biografie des Namensgebers gibt dafür jedenfalls keine Anhaltspunkte. Aber Escoffier verzeichnet noch ein weiteres Gericht, nämlich die
Consommé à la Nesselrode.
Basis ist ein kräftiger Wildfond, der vor allem aus gelinotte gewonnen wurde. Als gelinotte werden im Französischen diverse hühnerartige Wildvögel bezeichnet wie z.B. Fasan, Birk-, Reb- oder Haselhuhn und andere. Als Einlage wird eine royale zubereitet, zu deutsch ein Eierstich.
Der Eierstich-Mischung aus Milch und Eiern (die auch in deutschen Küchen Royale genannt wird, wenn man die Milch durch Sahne ersetzt) wird zu zwei Dritteln Kastanienpüree und zu einem Drittel eine sauce salmis von Gelinotte und Waldpilzen beigefügt. Die im →Bain-Marie gestockte Royale wird zu feinen Rondells ausgestochen. Das Fleisch der Wildvögel wird zusammen mit getrockneten und in Wein aufgeweichten Pilzen zu einem salmi, also dünnen Streifchen geschnitten. Direkt vor dem Servieren werden der Eierstich und das Salmi in den Suppentassen verteilt, mit der Consommé übergossen und dampfend heiß serviert.
Warum Escoffier, der ja erst 16 Jahre alt war, als Nesselrode starb, zwei weitere Gerichte nach dem monarchistischen Diplomaten benannt hat, obwohl Kastanien dabei keine Rolle spielen, ist nicht erkennbar.
An der
Timbale de Bécasse Nesselrode
ist zumindest, wie bei obiger Consommé, Wildgeflügel beteiligt: Schnepfen, französisch bécasses, oder alternativ faisan (Fasan), perdreau (Rebhuhn) und andere gelinotte-Vögel werden in einer mit Teig ausgekleideten Charlotte-Form mit einer Farce aus Wildfleisch und reichlich Trüffeln (Escoffier empfiehlt 150g! für eine timbale ordinaire) zu einer üppigen Pastete gebacken.
Ein Lachssteak, also eine quer aus dem küchenfertigen Fisch geschnittene, etwa 3-4cm dicke Scheibe, bereitet Escoffier als
Darne de Saumon Nesselrode
zu. Eine Pastetenform wird erst mit dünnem Teig und dann mit Speckstreifen ausgekleidet. Nachdem er die Rückengräte mit den seitlichen Gräten herausgelöst hat, füllt er die Pastete mit der darne und einer feinen Farce aus Hummer- und Hechtfleisch. In den Deckel aus Teig wird ein kleines Loch geöffnet, um den Dampf entweichen zu lassen, denn nun kommt das Ganze in den sehr gut vorgeheizten Ofen. Die aufgeschnittene Pastete wird mit sauce à l’américaine serviert, die aus den Hummer-Karkassen und Austern mit reichlich Sahne zubereitet wurde.