*1926 Collonges-au-Mont-d’Or, 2018 Collonges-au-Mont-d’Or
1946 hatte sich Mère →Brazier, die Ikone der Gastronomie des damaligen →Lyon, gerade in ihr Landgasthaus in Pollonnay am Col de la Luère zurückgezogen, als ein 20jähriger Kriegsheimkehrer bei ihr eine Kochausbildung antrat. Der junge Mann entstammte selbst einer Familie mit langer gastronomischer Tradition und hatte schon als Kind im elterlichen Restaurant in Collonges-au-Mont-d’Or, wenige Kilometer nördlich der Stadt, mitgearbeitet und erste Küchenerfahrungen gesammelt.
Dieser Paul Bocuse war als Freiwilliger der Französischen Befreiungsarmee unter Géneral de Gaulle im Kampf gegen die deutschen Besatzer im Elsass verwundet worden und in einem amerikanischen Lazarett mittels Bluttransfusionen von GI’s gerettet worden.
Nun hatte er sich als Start für seine Küchenkarriere die berühmte Köchin ausgesucht, denn deren Philosophie entsprach seiner Idee, naturbelassene Produkte so zuzubereiten, dass ihr eigener Charakter nicht verfälscht, sondern durch sorgsame Behandlung gerade hervorgehoben wird. Schon der kleine Paul liebte es, in den Wäldern um Lyon zu jagen und zu fischen und hatte hierbei die Achtung vor dem Wert tierischer Nahrungsmittel erworben.
Und in den Küchen der bouchons, der für Lyon typischen Restaurants, zu denen auch das von Mère Brazier gehörte, wurde diese Küchenphilosophie seit jeher gepflegt. Die so entstandenen Gerichte sowie die Produkte der Metzger und Bäcker aus Lyon haben den kulinarischen Ruf der Stadt begründet. Der Gastronomiekritiker →Curnonsky verlieh nicht ohne Grund Lyon den Titel der capitale mondiale de la gastronomie. Die Grundlage bildeten stets die umliegenden Regionen mit all den Köstlichkeiten, die ihre Flora und Fauna zu bieten hatten und noch immer haben.
Seit jeher war der zentrale Lebensmittelmarkt von Lyon, Les Halles, der Ort, an dem sich die landwirtschaftlichen Produkte aus der Bresse und den alpinen Regionen im Osten, aus dem Burgund im Norden, aus den Wäldern im Westen und die maritimen Genüsse aus dem mediterranen Süden versammelten und an dem die Köchinnen und Köche aus dem Vollen schöpfen konnten.
Natürlich kannte auch Bocuse von Kindesbeinen an die berühmten Hühner aus der Bresse. Bei Mère Brazier erlernte er die Zubereitung der poularde de Bresse als poularde demi-deuil, Huhn im Trauermantel. Der Name bezieht sich auf den Kontrast von schwarzen Trüffelscheibchen, die unter der hellen Haut durchschimmern, und einer fast weißen Sauce. Später nahm er das Gericht in sein Standardrepertoire auf als poularde truffée à la mère Brazier.
Bereits im amerikanischen Lazarett hatte sich Bocuse von den Soldaten einen stolz schreitenden coq gaulois auf den Oberarm tätowieren lassen. Ob dies eher als Reminiszenz an die Bresse oder als Ausdruck von gallischem Patriotismus gemeint war – jedenfalls hat der später weltberühmte Koch gerne mit hochgeschobenem Ärmel für Fotos posiert, um seinen gallischen Hahn zu präsentieren. Immerhin gilt das Bresse-Huhn mit den blauen Füßen, dem weißen Gefieder und dem feuerroten Kamm als lebendiges Ebenbild der französischen tricolore und als Idealbild des Hahnes, der seit den Kämpfen des Arverner-Königs Vercingétorix gegen die römischen Eindringlinge die Wachsamkeit und den heldenhaften Mut der Gallier und heute der Grande Nation versinnbildlicht. Und der in ganz Frankreich – und darüberhinaus – anerkannte kulinarische Wert des Geflügels aus der Bresse wird mit dem begehrten →Label Rouge gewürdigt.
Den respektvollen Umgang mit Lebensmitteln vertiefte Bocuse in den Jahren nach der Grundausbildung bei Mère Brazier in den Küchen berühmter Häuser in Paris und anderen Regionen Frankreichs. In den 1950er Jahren freundete er sich mit Jean und Pierre Troisgros aus der Auvergne an, die später als Frères Troisgros in die 3-Sterne-Gilde der cuisine française aufstiegen. Gemeinsam arbeiteten die drei Freunde in Vienne, etwa 30km südlich von Lyon, im Restaurant La Pyramide von Fernand Point.
Diesen Küchenmeister, anerkannt als Begründer der Nouvelle Cuisine, bezeichnete Bocuse später immer wieder, neben Eugénie Brazier, als sein wichtigstes berufliches und geistiges Vorbild.
Beide, Mère Brazier und Fernand Point, waren unter den Geehrten, als der Guide →Michelin im Jahr 1933 erstmals die Höchstauszeichnung von drei Sternen verlieh.
Bocuse erwarb seinen ersten eigenen Stern unmittelbar, nachdem er 1958 das elterliche Restaurant in Collonges-au-Mont-d’Or übernommen hatte. 1962 kam der zweite Stern dazu, und von 1965 bis zum Tod von Paul Bocuse im Jahr 2018 ist seine Küche ohne Unterbrechung mit drei Sternen gekrönt.
Besonderen Stolz zeigte Bocuse stets wegen seiner Ernennung zum Meilleur ouvrier de France (Bester Arbeiter Frankreichs) im Jahr 1961. Diesen Titel, der seit 1926 vom Arbeitsministerium in 17 überwiegend handwerklichen Berufssparten vergeben wird, muss man sich im Wettkampf mit Berufskolleginnen und –kollegen erkämpfen. Für Bocuse war es der einzige Köche-Wettstreit, an dem er jemals teilnahm. Später wurde er selbst in das Juroren-Gremium für die Sparte métiers de la restauration et de l’hôtellerie berufen (typisch übrigens für Frankreich: die Berufe des Restaurant- und Hotelwesens bilden die Wettbewerbs-Gruppe N° 1!).
Welche Bedeutung dieser Orden für ihn hatte, zeigte er, indem er ihn auf die Papiermanschetten drucken ließ, die in seinem Restaurant als Serviettenring dienten.
Auch auf den beiden hier wiedegegebenen Portraits trägt er den Orden am Tricolore-Band um den Hals.
Häufig wird Bocuse als Erfinder der Nouvelle Cuisine angesehen, eine Ehre, die, wie schon gesagt, eher seinem Lehrmeister Point gebührt. Allerdings hat Bocuse sich deutlich besser als dieser und als die meisten seiner Mitstreiter wie die Frères Troisgros in der breiten Öffentlichkeit bekanntgemacht. Dabei blieb er stets seiner Grundidee treu, nur frische, saisonale und regionale Produkte zu verarbeiten. Nicht umsonst ist sein Hauptwerk 1976 unter dem Titel La Cuisine du Marché (Marktküche) erschienen. In vielen Sprachen, auch im Deutschen, wurde das mit Neue Küche übersetzt, was die Assoziation Nouvelle Cuisine = Bocuse verstärkte. Die Nouvelle Cuisine, wie er sie bei Fernand Point aufgenommen hatte, war für Bocuse die Rückkehr zur Natur. Gegen Trends, die unter dieser Bezeichnung eine verkünstelte Gastronomie mit elitärem Gehabe boten, hat er sich vehement verwahrt. So schalt er über Kollegen, bei denen nichts auf dem Teller, dafür alles auf der Rechnung serviert wurde.
So neu, wie die Bezeichnung suggeriert, ist die Grundidee eh nicht. Lange, bevor der Begriff etabliert wurde, kochten die mères in den Lyoner bouchons und viele andere mit regionalen, saisonalen und vor allem frischen Produkten. Bocuse und seinen Weggefährten kommt allerdings das Verdienst zu, das Prinzip über Lyon hinaus zur Grundlage der gesamten französischen und internationalen Küche erhoben zu haben.
Eine wirkliche Modernisierung stellt u.a. die Ablösung der schweren Saucen auf Basis von roux (Mehlschwitze, →La Varenne) durch leichtere Buttersaucen dar. Deshalb verzichtete Bocuse beispielsweise bei der Poularde truffée von Mère Brazier sogar auf die sauce suprême.
Aber auch er war nicht gefeit vor kommerziellen Versuchungen. Nachdem er immer wieder Konserven- und Fertiggerichte als Misshandlung von Lebensmitteln kritisiert
hatte, ließ er sich später – wohl gegen gutes Geld – dazu verleiten, seinen Namen für eine Serie von industriellen Dosensuppen herzugeben. Kritiker dieses Schrittes tat er damals leichtfertig mit einem üblen Schimpfwort ab.
Auch in den USA und selbst in Japan ließ er seinen Namen für Restaurants, Lebensmittelprodukte und Gewürzkollektionen vermarkten. Mit Disney schloss er einen Vertrag für die Gastronomie in den gleichnamigen Vergnügungsparks ab, darunter auch das 1992 eröffnete Disneyland Paris. Hersteller von Tafelgeschirr und Kochutensilien werteten ihre Produkte gerne mit seinem Namenszug auf.
Die Kritik, dass er bei diesen breitgefächerten Engagements kaum noch selbst am Herd seiner Restaurants stünde, beantwortete Bocuse mit der flapsigen Bemerkung, ein Ferrari-Sportwagen werde ja auch nicht von Enzo Ferrari persönlich gebaut …
Trotz solcher zweifelhafter Punkte in seiner beruflichen Biografie hat sich Bocuse unbestreitbar um die Fortführung altüberlieferter kulinarischer Traditionen und gleichzeitig um deren Anpassung an die Ansprüche einer modernen, natur- und gesundheitsbewussten Ernährung verdient gemacht. Auf dem Weg zu seinem Restaurant Auberge du Pont de Collonges passiert man eine Reihe von Wandgemälden, auf denen Persönlichkeiten der langen französischen Küchen-Historie verewigt sind, darunter natürlich auch seine Lehrmeisterin Brazier, sein Mentor Fernand Point und Weggefährten wie die Brüder Troisgros oder Paul Haeberlin aus dem Elsass, ein weiterer großer Koch des 20. Jhs. Und nicht zuletzt der berühmte Auguste →Escoffier. Wie jener wollte Bocuse seinen Berufsstand als künstlerisch-kreatives Handwerk mit öffentlicher Anerkennung verstanden wissen. Und wie Escoffier liebte es auch Bocuse, seine kulinarischen Kreationen nach prominenten Persönlichkeiten zu benennen, einige Beispiele hierfür sind in diesem Buch beschrieben.
Nach Escoffier im Jahr 1919 wurde er 1975 der zweite Vertreter seines Berufsstandes, der zum Chevalier de la Légion d’Honneur (Ritter der Ehrenlegion) ernannt wurde. Diese höchste Ehrung, die der französische Staat an Zivilpersonen vergibt, wurde vom damaligen Staatspräsidenten Valéry →Giscard d’Estaing vorgenommen, der in der Presse und im Volksmund gerne mit dem Kürzel VGE benannt wurde. Bocuse ließ es sich nicht nehmen, für das Festbankett selbst am Herd zu stehen und widmete dem Staatsoberhaupt die Soupe aux truffes noires VGE. Die Gemüsesuppe wird mit Hühner- oder Rindfleisch zubereitet und durch reichlich Hobelspäne von schwarzer Trüffel und foie gras, Geflügelstopfleber, verfeinert. Im Ofen werden die einzelnen Portionsterrinen mit Blätterteig verschlossen, sodass sich die feinen Aromen erst genau dann entfalten, wenn der Gast diesen knusprigen Deckel mit dem Löffel aufbricht. Die Trüffel-Suppe ist ein fester Punkt auf der Karte der Auberge du Pont und längst zum Klassiker der französischen Küche geworden. Da das Festbankett im Sitz des Staatspräsidenten, dem Palais de l’Élysée stattfand, findet man sie auch als Soupe Élysée.
1985 wird Bocuse durch Präsident Jacques Chirac vom Ritter zum Offizier der Ehrenlegion befördert. Es folgen etliche weitere nationale und internationale Auszeichnungen. Neben den drei Michelin-Sternen wird er auch vom zweiten großen Gastronomieführer, dem seit 1972 herausgegebenen Gault&Millau, mit Höchstnoten geehrt und 1990 zum Cuisinier du Siècle (Jahrhundertkoch) ernannt. Der bisher einzige deutschsprachige Kollege, der so ausgezeichnet wurde, ist der Österreicher Eckart Witzigmann für die Küche seines Restaurants Aubergine in München. Zu Witzigmanns beruflichen Stationen hatten zuvor die Küchen der Frères Troisgros, der Haeberlins und auch die von Monsieur Paul gehört.
Die Bewertungen des Gault&Millau werden, anstatt mit Sternen, nach einem vom französischen Schulwesen übernommenen System von 1 bis 20 Punkten durch maximal fünf Kochmützen, im Französischen →toques, gekennzeichnet. Bocuse selbst machte eine extrem hohe und akkurat gefältelte, blütenweiße Kochhaube zu seinem äußerlichen Markenzeichen. Der Gault&Millau bezeichnete mit Bocuse erstmals einen Koch als Pape de la Gastronomie.
Der schon erwähnte zentrale Markt von Lyon wurde 2007 aufwändig modernisiert und zu Ehren des berühmten Kochs in Halles de Lyon – Paul Bocuse umgetauft. Eine Künstlergruppe der Cité de la Création gestaltete 2015, im 50. Jahr seiner 3 Michelin-Sterne, gegenüber der Markthalle ein riesiges Wandgemälde mit dem Titel Thank you Monsieur Paul. Regelmäßig wird das Fresko-Portrait mittels Projektionen thematisch verwandelt.
Obwohl er selbst, siehe oben, nur einmal an einem Köche-Wettstreit teilgenommen hatte, rief Bocuse 1987 den Concours mondial de la cuisine ins Leben. Im Zwei-Jahre-Rhythmus treten Köchinnen und Köche über zwei Tage gegeneinander an, um die inzwischen prestigeträchtige Trophäe Bocuse d’Or zu erringen.
Die kleine Statue, die es noch in Silber und Bronze gibt, zeigt den Meister persönlich, auf einer Weltkugel stehend und in der typischen Pose mit vor der Brust verschränkten Armen – und natürlich mit einer toque auf dem Kopf, die fast ein Viertel der gesamten Figur ausmacht. Bisher hat noch kein deutscher Koch einen Goldenen Bocuse gewinnen können, dreimal reichte es für Bronze. Immerhin schon bei der zweiten Ausgabe des Wettbewerbs 1989 war die auch aus dem deutschen Kochfernsehen bekannte Luxemburger Küchenchefin Lea Linster erfolgreich, die bisher einzige Frau unter den vergoldeten Gewinnern. Wenn man sich dem Eingang der Auberge du Pont in Collonges nähert, überschreitet man statt eines roten Teppichs eine große Metallplatte mit den eingravierten Namen der Bocuse d’Or-Gewinner.
Bocuse veröffentlichte nicht nur zahlreiche Bücher, sondern nutzte auch das noch recht junge Medium des Fernsehens und wurde zu einem Vorreiter der bis heute beliebten Kochsendungen. Auch im deutschen TV war er 1985/86 mit einer Serie unter dem Titel Bocuse à la Carte vertreten.
1990 gründete er mit einem Geschäftspartner das Institut Paul Bocuse. An dieser Fachschule für Hotel- und Gastronomieberufe in Écully bei Lyon werden jedes Jahr nach einem strengen Auswahlverfahren junge Menschen ausgebildet, die sich nach einem erfolgreichen Abschluss keine großen Sorgen um ihr berufliches Weiterkommen machen müssen. An dem Institut kann man sogar mit gastronomischen Dissertationsthemen den Doktortitel erwerben.
Das öffentliche Ansehen des Jahrhundertkochs wurde auch nicht geschmälert durch seine polygame Lebensweise, zu der er sich freimütig bekannte. Die französische Presse schert sich traditionsgemäß eh weniger um private Angelegenheiten von Prominenten als die schreibende Zunft in anderen Ländern. Ein paar seiner Kinder von drei Frauen sind selbst in der Gastronomie tätig und begleiteten Bocuse in seiner Arbeit. 2005 gab seine Tochter Ève-Marie Zizza-Lalu die Biografie Paul Bocuse. Le feu sacré (Das heilige Feuer) heraus.
Selbst öffentlich gewordene Vermutungen, er habe mit Steuern getrickst, kratzten nur oberflächlich an seinem Renommée.
Collonges-au-Mont-d’Or unterhält bereits seit 1967 eine Partnerschaft mit der Gemeinde Illhaeusern im Elsass-Département Haut-Rhin. Die Verbindung hat ausschließlich kulinarische Gründe. Denn dort, im Restaurant Auberge de l’Ill, hat sich ein guter Freund von Paul Bocuse, Paul Haeberlin, 1967 in die Riege der 3-Sterne-Köche eingereiht, gefolgt von seinem Sohn Marc. Auf den Schildern am Ortseingang titulieren sich die beiden Partnergemeinden denn auch wechselseitig als Cité gastronomique. Und während Collonges die Uferstraße, an der die Auberge von Bocuse liegt, quai d’Illhaeusern taufte, liegt die Auberge der Haeberlins im Elsass in der rue de Collonges-au-Mont-d’Or.
Eine liebevolle Hommage gestaltete ein Puppentheater in Lyon, das den berühmten Koch als Marionettenfigur mit extra-großer Kochmütze gemeinsam mit Guignol, dem französischen Pendant zum Kasperle, in Stücken für Kinder auftreten ließ.
Im Jahr 2013, Bocuse ist bereits von einer Parkinson-Erkrankung gezeichnet, ehrt ihn seine Heimatstadt Lyon mit einem großen Festbankett im Rathaus, für das sich einige der größten Köche der Gegenwart ein Stelldichein am Herd geben.
Als er 2018 in seinem Geburtshaus, der Auberge du Pont, stirbt, nimmt eine immense Menschenmenge an seinem Begräbnis teil. Eine illustre Schar von Kolleginnen und Kollegen, alle in ihrem weißen Berufshabit, begleitet den Sarg zum Familiengrab in Collonges, darunter auch die alten Weggefährten Troisgros. Bocuse trägt als letztes Gewand ebenfalls die weiße Kochjacke, geschmückt mit der Medaille des Meilleur Ouvrier de France, die ihm 67 Jahre zuvor verliehen worden war.