Niemand hat bisher dem bekannten Gastrosophen →Curnonsky ernsthaft widersprochen, der Lyon 1935 den Ehrentitel
verlieh.
Ein anderer Beiname der zweitgrößten Stadt Frankreichs lautet
was sich mit Stadt des Gaumens (vulgo des Leckermauls) übersetzen lässt.
Solche Kennzeichnungen verwundern nicht, schaut man sich allein die privilegierte geografische Lage an: Im Norden beeinflusst von Champagne, Bourgogne, Alsace und Lorraine, im Süden vom bereits mediterranen Klima des Rhônetals verwöhnt. Vom Osten fließen mit Ain und Rhône alpine Einflüsse heran. Und westlich der Stadt bieten die Ausläufer des Massif Central, die Monts Lyonnais alles, was Wälder, Bäche und Seen an Wild und Fisch, Krebs und Frosch oder Pilzen und Kastanien hergeben. An der von Norden her zur Rhône gelangenden Saône entlang erstrecken sich die Weinberge des Beaujolais, weiter gen Süden befindet man sich unmittelbar in der großen Region der Côtes du Rhône.
Die Bresse mit ihrem zu Recht gerühmten Geflügel, die speziellen Artischocken aus →Vaulx-en-Velin, Kastanien aus den Wäldern der Ardèche,
das saftige Rindfleisch des →Charolais, zig Ortschaften mit überregional renommierten Käsesorten, Früchte und Gemüse aus den fruchtbaren Flusstälern ringsumher und, und, und …:
Aus diesem üppigen Angebot in der unmittelbaren Umgebung konnte sich die Küche Lyons seit jeher ihre Zutaten ausssuchen. Schon in der Renaissance war Lyon ein Zentrum des Gewürzhandels mit den Häfen am Mittelmeer. Und die Frauen und Männer an den Herden in Lyon haben sehr wohl verstanden, daraus etwas zu machen!
Etliche sternegekrönte Köchinnen und Köche, wohl der bekannteste unter ihnen Paul →Bocuse, stammen aus Lyon. Aber sie sind nur die überregional sichtbare Spitze einer langen Tradition zweier lokaler gastronomischer Eigenheiten, die eng miteinander verbunden sind.
Zum einen die bouchons, ursprünglich einfache Gasthäuser, die sich (ähnlich wie in Deutschland die Straußwirtschaften oder die Buschenschänken in →Wien) mit einem ballenförmig gebundenen Gebilde aus Zweigen, dem bouchon, hungrigen Gästen zu erkennen gaben. Diese Gäste waren häufig canuts, wie die Seidenweber in Lyon genannt werden, ein bereits im mittelalterlichen Lyon wurzelnder Berufsstand, der mit Stolz auf seine historische Eigenständigkeit von Französischer Revolution bis zur Résistance gegen den deutschen Nationalsozialismus verweist.
Dass bouchon im Französischen den Korken einer Weinflasche bezeichnet, liegt daran, dass dessen Vorläufer in einem Ballen aus Stoff bestand. Auch ein Verkehrsstau, der die Straßen blockiert wie ein Pfropfen, wird umgangssprachlich so genannt.
Welche Wertschätzung die Kultur der Bouchons weit über Lyon hinaus genießt, zeigt sich an einer Briefmarke, die die französische Postgesellschft 2007 ihr zu Ehren herausgebracht hat.
Die Bouchons zeichnen sich aus durch eine zwar einfache, aber die regionalen Produkte ehrende Küche. Typische, auch heute noch auf Speisekarten zu findende Gerichte sind der Saladier lyonnais mit ausgelöstem gekochtem Schafsfuß, Hering, Geflügelleber und pochierten Eiern, die Cervelle de canut, eine cremige Frischkäsezubereitung mit Zwiebeln und Kräutern, oder der Kutteleintopf Tablier de sapeur (Lederschürze). Und nicht zu vergessen die Quenelles lyonnaises, Brandteigklößchen mit Beimengung von Leber-, Fleisch- oder Fischfarce. Sie sind überall in Lyon küchenfertig zu kaufen und werden je nach Geschmack mit unterschiedlichen Saucen, traditionell aber mit sauce →Nantua zubereitet. Zu den beliebtesten Varianten gehören die quenelles de brochet, Hechtklößchen, die ebenfalls mit der nach Nantua benannten Sauce serviert werden, eine mit Sahne und Krebsbutter verfeinerte Abwandlung der klassischen →Béchamel.
Unter den mères lyonnaises (s.u.) galt la Mère Vittet als Königin der Hechtklößchen.
Dazu wird unter Umständen eine Galette lyonnaise serviert, ein herzhafter Kartoffel-Zwiebel-Kuchen, oder eine Cervelas lyonnais, eine mit der gleichnamigen Wurst, Trüffelspänen und Pistazien gefüllte brioche (→Saint-Brieuc).
Natürlich kommen in den Bouchons auch all die Wurstspezialitäten auf den Tisch, die von den Metzgern Lyons erfunden wurden: Die schon als Brioche-Füllung erwähnte Cervelas de Lyon, die recht grobe Schweinebrühwurst, die der in Deutschland als Lyoner (→Saarbrücken) zu habenden etwas feineren Fleischwurst als Vetter gelten kann, und die besonders gerne in der Variante pistaché genossen wird, mit Pistazien (frz. pistaches) im Brät. Die salamiartige Jésus de Lyon, die ihren etwas makabren Namen einem im Wurstende steckenden Holzstab verdankt, der an ein Kruzifix erinnert, aber eigentlich nur zum Verschließen und zum Aufhängen an der Luft oder im Rauch dient (→Morteau). Die Andouillette de Lyon ist eine Wurst aus Schweineinnereien und Kalbfleisch. Als Boudin (noir) de Lyon wird ein Darm bezeichnet, der mit Blut und Fett vom Schwein, rohen Zwiebeln, Rahm und Mangold gefüllt ist. Oder man schneidet hauchdünne Scheiben von einer dicken, herzhaften Dauerwurst namens Rosette de Lyon.
Derlei Metzgereikunst gehörte, mit einem historischen Augenzwinkern, selbstverständlich neben den o.g. Quenelles zu den kulinarischen Souvenirs, die Asterix und Obelix von ihrer Tour de Gaule aus Lugdunum in ihr gallisches Dörfchen mitbrachten.
Neben derlei kulinarischen Genüssen zeichnen sich die Bouchons durch familiäre Atmosphäre aus, man kennt sich, man isst, trinkt, lacht und weint gemeinsam. Denn das zweite Standbein der Gastronomie Lyons stellen die mères lyonnaises dar. Köchinnen, die in Diensten adliger oder großbürgerlicher Familien gestanden hatten, begannen im Zuge der gesellschaftlichen Umwälzungen der Französischen Revolution, andere in der Wirtschaftskrise der späten 1920er Jahre, sich mit der Gründung eigener Gaststätten selbständig zu machen. Meistens standen diese Restaurants ebenfalls in der Tradition der bouchons. Die Lokale heißen Mère Guy, Mère Léa (legendär wegen ihres Makkaroni-Auflaufs) oder Mère Vittet (s.o.), Tante Paulette und Mère Fillioux, um nur wenige zu nennen. Madame Fillioux wird auch als mère des bouchons tituliert.
Die Mütter von Lyon bieten eine Mischung aus kreativer cuisine bourgeoise und bodenständiger, lokal geprägter Tradition. In der klassischen Küche wird z.B. eine Sauce als Lyonnaise bezeichnet, die auf einer Weißwein-Zwiebel-Reduktion mit Kräutern basiert und mit Kalbsvelouté montiert wird.
Und ihr prominentester Küchenlehrling war 1946 kein geringerer als Paul →Bocuse, der seit 1965 bis zu seinem Tod im Januar 2018 ununterbrochen ein 3-Sterne-Restaurant in seinem Geburtsort Collonges-au-Mont-d’Or vor den Toren von Lyon betrieb.
Nach dem großen Koch hat Lyon auch den zentralen Markt, Les Halles Paul Bocuse, benannt. Anders als in →Paris mit dem neuen Großmarkt in →Rungis hat man in Lyon 1971, der Enge der Altstadt zum Trotz, eine Renovierung und Modernisierung am alten Standort vorgenommen.
Wie in der französischen Sprache überhaupt haben auch in Lyon Sprichwörter oft etwas mit dem leiblichen Wohl zu tun:
(Besser wird einem beim Essen warm als beim Arbeiten kalt).
Die gleiche Lebensweisheit steckt in der Aussage
(Beim Arbeiten tun wir, was wir können, bei Tisch aber strengen wir uns an).
Natürlich bietet auch die deutsche Sprache eine Menge Beispiele für kulinarische Anspielungen: →Kulinarische Redewendungen
Vielleicht gibt es als Lohn für die Anstrengung ja noch ein Coussin de Lyon, mit →ganache gefülltes und mit Curaçao parfümiertes, giftgrünes Mandelkonfekt. Seinen Namen verdankt es der Form, die ein winziges Kissen (frz. coussin) darstellt. Hiermit erinnerte der Pâtissier Voisin 1960 an das Pest-Jahr 1643: Damals brachten die Bürger von Lyon, vor allem die Seidenweber, der Heiligen Muttergottes Opfer in der Hoffnung, die Seuche möge die Stadt verschonen. Die Opfergaben, eine riesige Wachskerze und Goldmünzen, lagen auf einem Seidenkissen.
Eine andere Süßigkeit soll ein verliebter Confiseur erfunden haben: Um seiner Angebeteten heimlich Briefchen zukommen zu lassen, schickte er ihr Pralinen. Auf das Papier, in das er diese einwickelte, hatte er zuvor seine Liebesbotschaften geschrieben. Der Chef entdeckte diese Heimlichkeit und entließ den armen Kerl, fand die Idee dann aber doch so pfiffig, dass er sie zur Geschäftsreife weiterentwickelte.
Noch heute ist es nicht nur in Lyon ein beliebter Brauch, an Weihnachten Papillotes de Lyon zu verschenken, Schokoladenpralinen, deren Einwickelpapier (papillote) auf der Innenseite mit Glück wünschenden Sprüchen bedruckt ist.
Eine vergleichbare Funktion erfüllte der süße Studentenkuss in →Heidelberg.