Ulis Culinaria

Eugénie Brazier

*1895 La Tranclière, †1977 Sainte-Foy-lès-Lyon

Das Dörfchen La Tranclière liegt im Herzen der historischen Landschaft Bresse, seit jeher berühmt für ihr Geflügel, das entgegen der Industrialisierung in Massentierhaltung bis heute unter ökologischen Bedingungen aufwächst. Die poularde de Bresse mit den blauen Füßen, dem weißen Federkleid und dem roten Kamm verkörpert nicht nur den coq gaulois und die Farben bleu-blanc-rouge der tricolore, sondern steht symbolisch für eine Lebensmittelproduktion, die klar Qualität vor Quantität setzt.

Bresse, Bugey, Bourgogne ...

Hierfür darf das Bresse-Huhn mit dem in Frankreich begehrten →Label Rouge verkauft werden. Auch sonst haben die Bresse und ihre Nachbarregionen eine Fülle an kulinarischen Spezialitäten zu bieten: Wurst und Schinken, Obst und Gemüse, und nicht zuletzt die vielen Käsesorten, die etwas weiter östlich in alpiner Milchwirtschaft entstehen. Das Bugey, die Heimat des Gastrosophen →Brillat-Savarin, grenzt ebenso an die Bresse wie die berühmten Weinberge des Burgund im Westen, auf der anderen Seite der Rhône.

... das kulinarische Herz Frankreichs

Obwohl die junge Eugénie als Halbwaise in ärmlichen Verhältnissen aufwächst, nimmt sie alle diese Eindrücke gierig auf. Mit knapp 20 Jahren gelangt sie nach →Lyon, rund 50km weiter südwestlich gelegen. In der capitale mondiale de la gastronomie, wie Lyon vom Restaurantkritiker →Curnonsky, einem Zeitgenossen von Eugénie Brazier, genannt wurde, hat man es seit jeher verstanden, die Köstlichkeiten aus dem Umland auf höchstem Niveau zu verarbeiten. Eine Institution, die den Ruf Lyons als Welthauptstadt der Gastronomie mitbegründet hat, sind die bouchons. So heißen hier Restaurants, die mit einem aus grünen Zweigen gebundenen und über dem Eingang angebrachten ballenförmigen Strauß, französisch bouchon, anzeigen, dass Küche und Theke geöffnet sind. Vergleichbar sind in Deutschland die Straußwirtschaften.

les bouchons

&

les mères

gastronomische Juwele Lyons

Viele dieser Restaurants wurden von Frauen geleitet, die früher in herrschaftlichen Küchen angestellt waren. Da nach der französischen Revolution mit der sinkenden Bedeutung des Adels solche Arbeitsverhältnisse rar geworden waren, eröffneten bzw. übernahmen etliche dieser Köchinnen Restaurants. Diese herausragende Stellung von Frauen in der Gastronomie, deren Küche meist von Männern dominiert wird, ist eine Besonderheit von Lyon. Die Bouchons zeichnen sich durch einfache Küche aus, in der aber beste Zutaten verwendet werden. Zu den Gästen gehörten die canuts, die Arbeiterinnen und Arbeiter der Seidenweberei, lange Zeit ein wichtiger Wirtschaftszweig in Lyon. Aber ebenso fanden sich Angestellte, selbständige Kaufleute, Rechtsanwälte, Akademiker und viele andere ein, sodass die Gästeschar ein breites gesellschaftliches Spektrum repräsentierte. Da die Wirtinnen nicht selten für ihre Gäste auch so etwas wie familiäre Atmosphäre schufen, nannte man sie bald mères lyonnaises, Mütter von Lyon.

Eine der bekanntesten unter ihnen war Françoise Fayolle, die von ihren Gästen nur mère Fillioux genannt und besonders für ihre Hühnergerichte gerühmt wurde. Sie verarbeitete Bresse-Hühner in solchen Mengen, dass sie den Beinamen reine des poulardes erhielt. Eines ihrer bekanntesten Gerichte ist inzwischen ein Klassiker der Lyonnaise Küche: Die poularde demi-deuil, Huhn im Trauermantel. Das Geflügel wird mit einer feinen getrüffelten Fleisch-Farce gefüllt, und Scheibchen von schwarzer Trüffel werden unter die helle Haut geschoben, von wo sie dunkel durchschimmern. Das langsam knapp unter dem Siedepunkt in Fond gegarte Huhn wird mit einem zur sauce suprême montierten roux blanc (→La Varenne) nappiert. 

la poularde demi-deuil

Mère Fillioux
Foto: Tradition et Transmission

Der Schwarz-Weiß-Kontrast zwischen den truffes noires und der weißen Sauce über dem hellen Fleisch erklärt den etwas traurigen Namen – der allerdings überhaupt nicht zum kulinarischen Vergnügen passt.

Mit demi-deuil ist die Phase gemeint, in der der Trauerfall allmählich weit genug in die Vergangenheit gerückt ist, um peu-à-peu die schwarze Trauer-Garderobe wieder gegen etwas hellere Farben zu tauschen. In diese (nur schwer zu übersetzende) Halbtrauer passt z.B. schon mal ein weißer Stoff mit schwarzen Punkten –

– ja, und dieses Gewand trägt eben auch die getrüffelte Poularde. Wenn auch nicht auf der Haut, so doch darunter.

Bodenständigkeit und Raffinesse am Herd - kein Widerspruch!

Bei eben jener Madame Fillioux, der impératrice des mères lyonnaises, fand Eugénie Brazier schließlich eine Anstellung und begann eine Kochausbildung. Sie erwies sich bald als begnadete Köchin, und 1921 eröffnete sie im zentralen 1er Arrondissement von Lyon, in der rue Royale, einen eigenen bouchon.

Der Start ohne große finanzielle Mittel war schwierig, aber ihre ausgezeichnete Küche sprach sich schnell herum, und das Restaurant Mère Brazier wurde zur gefragten Adresse für Feinschmecker aus nah und fern. 1928 erwarb sie etwa 15km westlich von Lyon, am Col de la Luère, einem Pass bei Pollionnay in den Bergen des nördlichen Massif Central, ein Haus als Rückzugsort, um sich vom Alltagsstress zu erholen. Freunde überredeten sie allerdings, dort, im idyllischen Grünen, ein zweites Restaurant zu eröffnen. Viele von ihnen waren begeistert von dem noch jungen Automobil, das sie gerne für kulinarische Ausflugsfahrten nutzten. Sowohl das Restaurant in Lyon als auch der Waldgasthof am Luère-Pass wurden schon 1932 jeweils mit zwei →Michelin-Sternen geehrt, und nur ein Jahr später vergab der Guide Michelin sogar je drei Sterne an beide Restaurants von Eugénie Brazier. 

Bis heute haben diese Höchstauszeichnung von insgesamt sechs étoiles weltweit nur sechs Küchenchefs erhalten, und Mère Brazier ist unter ihnen die einzige Frau.

Auch Curnonsky, der schon an der Erscheinung der ersten Ausgaben des gastronomiekritischen Guide Michelin mitwirkte und häufig zu Gast bei Mère Brazier war, trug hierzu einiges bei. Der Hotel- und Restaurant-Führer war 1900 anlässlich der Weltausstellung in Paris vom gleichnamigen französischen Reifenhersteller ins Leben gerufen worden und wandte sich vor allem an den neu entstehenden Auto-Tourismus. Im Lauf der Jahre ließen sich unzählige namhafte Persönlichkeiten aus Politik, Kunstbetrieb und Unterhaltungsbranche an den Tischen von Mère Brazier nieder.

1946, Mère Brazier hatte inzwischen ihr Stammhaus in Lyon an ihren Sohn Gaston übergeben, trat ein junger, gerade aus dem Krieg heimgekehrter junger Mann bei ihr am Col de la Luère eine Kochlehre an, der selbst aus einer Gastronomen-Familie in Collonges-au-Mont-d’Or stammte, wenige Kilometer nördlich der Stadt. Dieser ambitionierte Schüler namens Paul →Bocuse lernte hier nicht nur die Grundlagen der Verarbeitung von Lebensmitteln auf höchstem Niveau kennen, sondern auch deren Herkunft und oft mühsame Herstellung. Diese elementaren Erfahrungen haben Bocuse stets auf seinem Weg zum Jahrhundert-Koch begleitet, indem er die Achtung jeder einzelnen Zutat und ihre respektvolle Behandlung in der Küche zur Maxime seiner Nouvelle Cuisine machte.

Und Zeit seines Lebens hat er seine Lehrmeisterin nicht vergessen. In seinem Restaurant in Collonges, für das er seit 1965 bis zu seinem Tod im Jahr 2018 ununterbrochen drei Michelin-Sterne führte, bereitete er das von den Mères Fillioux und Brazier vererbte Rezept für die poularde demi-deuil ebenfalls zu und servierte es unter der Ehrenbezeichnung Poularde de Bresse truffée mère Brazier. Gemäß seiner Forderung nach leichter Küche verzichtete Bocuse jedoch auf die recht schwere sauce suprême.

Die Seitenstraße, die bei dem Restaurant in die rue Royale mündet, wurde 2003 in

rue Mère-Brazier

umbenannt.

Eine späte Ehrung: Schon Édouard →Herriot, von 1905 bis 1957 Bürgermeister von Lyon, hat einmal bekannt, Mère Brazier habe mehr für das Ansehen der Stadt geleistet als er selbst.

Während das Restaurant am Col de la Luère Ende der 1960er Jahre seine Pforten schloss, wurde der Bouchon in Lyon bis 2004 von Eugénies Enkelin Jacotte weiterbetrieben, die es an befreundete Gastronomen übergab. Nicht nur der Name Mère Brazier ziert nach wie vor das Schild über dem Eingang, sondern auch die Küche arbeitet heute unter Mathieu Viannay, einem Bocuse-Schüler, weiter im Sinne der Gründerin und ist immerhin noch mit zwei Michelin-Sternen ausgezeichnet.