Ulis Culinaria

André u. Édouard Michelin

1853 Paris, †1931 Paris *1859 Clermont-Ferrand, †1940 Orcines

Wer heute mit dem Auto unterwegs ist, hat meist kein Problem, für den Besuch eines empfohlenen Restaurants auch mal einen kleineren Umweg zu fahren. Selbst ein Wochenend-Trip kann eigens dem Ziel gewidmet sein, ein feines Abendessen zu genießen und dann den Sonntagmorgen im angeschlossenen Hotel zu verschlafen. Am Beginn des automobilen Zeitalters freilich waren solche Unternehmungen mitunter noch ausgewachsene Abenteuer. Ein häufiger Grund für abrupte Fahrtunterbrechungen waren die Reifen, die den grob gepflasterten oder noch fast unbefestigten Straßen nicht standhielten.

Automobilisierung der Gastronomie

André
Édouard

Ende des 19.Jhs. brachten da die beiden Brüder André und Édouard Michelin eine im wahrsten Sinne des Wortes bahnbrechende Erfindung auf den noch ganz neuen Automobil-Markt. 1889 hatten sie eine Kautschuk-Manufaktur im zentralfranzösischen Clermont-Ferrand geerbt, in der sie unter der Firmierung Michelin & Compagnie zunächst allerlei nützliche Gummiprodukte herstellten wie Bälle für Sport und Spiel, Leitungsdichtungen oder Stoßdämpfer für Maschinen. Und sowohl für die herkömmlichen als auch für die neuen, pferdelosen Kutschen produzierten sie Vollgummireifen und Bremsbeläge. Erheblichen Komfort bescherten Kutschern und Fahrgästen seit der Mitte des 19.Jhs. die neuartigen, luftgefüllten Reifen, um deren Erfindung sich der Schotte John Dunlop mit anderen stritt. Édouard Michelin hatte aber 1891 die weiterführende Idee, einen Reifen mit einem Innenschlauch zu konstruieren, der im Pannenfall ausgewechselt werden konnte und so erhebliche Zeitersparnis brachte. 

So schnell ging das, dass 1895 der Sieger eines Autorennens – die beiden Brüder waren selbst begeisterte Rennfahrer der ersten Stunde – disqualifiziert wurde, weil er dank der neuen Erfindung für die unvermeidbaren Reifenwechsel auf der Strecke von Bordeaux nach Paris nur jeweils wenige Minuten benötigte und damit seinen Konkurrenten um Meilen voraus war. Die Bestückung allein von Rennwagen bescherte natürlich dem wechselbaren Luftreifen noch keinen wirtschaftlichen Erfolg. Dazu musste das Produkt auch bei der rasch wachsenden Schar der zivilen Motorkutschen-Fahrer ankommen. Zunächst freuten sich die Fahradfahrer über die Luftreifen-Federung, nach und nach machten dann auch die Autobauer den Michelin-Reifen zum Ausstattungsstandard. Besonders werbewirksam waren die Mietdroschken, die um 1900 als Vorläufer der heutigen Taxis ihre Fahrgäste dank der Luftreifen sanft über die Pariser Kopfsteinpflaster-Straßen gleiten ließen.

Die Geburt des Guide Michelin

Die Michelin-Brüder hofften offensichtlich, dass die Zahl der seinerzeit kaum mehr als 2.400 französischen Automobilisten bald auf 35.000 ansteigen würde. Denn in dieser Auflage präsentierten sie auf der Weltausstellung 1900 in Paris ein Büchlein, das als kleine Gratis-Beigabe beim Reifenkauf gedacht war.

Dieser erste

Guide Michelin

listete Reifenhändler und Werkstätten innerhalb des noch dünnen französischen Autostraßennetzes auf, gab Ratschläge für einfachere Reparaturen und zur Fahrpraxis. Zum Auffüllen von Tanks und Batterien – ja, das E-Auto konkurrierte schon damals mit dem Verbrennungsmotor! – waren Benzindepots (oft noch Apotheken!) und Ladestationen aufgeführt. Für ernstere Vorkommnisse wurden sogar Adressen von Ärzten genannt, denn Rettungsdienste und Notrufsäulen waren natürlich noch kein Thema.

Um die Autofahrer zusätzlich zu Ausflugsfahrten zu animieren und damit Reifenabrieb und -absatz zu fördern, schmückten die Michelins schon die ersten Ausgaben des Guide rouge, wie er wegen des roten Einbandes bald genannt wurde, mit Hinweisen auf allerlei Sehenswürdigkeiten im Land aus.

Als André einmal – so erzählt eine Anekdote – einen der Reifenhändler ertappte, der einen Guide Michelin zum Unterfüttern eines zu kurzen Tischbeines missbrauchte, wurde die kostenlose Verteilung eingestellt. Die Kunden erhielten das rote Büchlein nun für 7,-FF. Die Auflagen waren tatsächlich gestiegen, und der zügige Ausbau des Straßennetzes mit immer mehr Tankstellen, Werkstätten und Reifenläden erforderte ständige Aktualisierungen, sodass jährlich ein neuer und noch dickerer Michelin-Führer erschien und sich das Unterfangen zu einem eigenen Geschäftszweig entwickelte. Überdies wurde der Reiseführer durch die bis heute beliebten Cartes Michelin, die Straßenkarten im detailreichen Maßstab 1:200.000, ergänzt sowie durch die noch heute in grün gebundenen Guides verts, die den Autoreisenden auf regionale touristische Ziele hinweisen. 

praktisches Handbuch ...

Bald kamen, mit Belgien als Anfang, ausländische Ausgaben hinzu, den ersten Guide Michelin für die Schweiz und Deutschland gab es 1910.

Aber nach wie vor handelte es sich im Grunde um ein praktisches Handbuch für Autofahrer, in gewisser Hinsicht auch Ersatz für die seinerzeit noch unbekannten Fahrschulen. Aber bei den Kunden wuchs der Wunsch nach gastronomischen Adressen, denn so manche Autopanne war eben nicht in wenigen Stunden zu beheben. In der Ausgabe von 1923 waren deshalb erstmals vor allem Hotels aufgeführt, wobei eine Empfehlung schon mal damit begründet wurde, dass im Zimmerpreis sogar eine Kerze enthalten war.

Nach und nach kamen dann auch Restaurant-Empfehlungen hinzu. Die Tipps kamen anfänglich im Wesentlichen von den Vertretern der Firma, die bei ihren Geschäftsreisen natürlich eh die französische Gastronomie nutzten. Wenn sie dann in einem Gasthaus besonders gut gespeist hatten, vermerkten sie dies mit einem kleinen Stern im Guide. Da allerdings die Reifenvertreter bei den Köchen und Restaurantbetreibern schon bald gut bekannt waren, schickte man nun wechselnde inspecteurs auf die Reise, die sich bei ihren Testessen nicht zu erkennen gaben.

... für Autofahrer

Ab 1927 wurde die bis heute gültige Bewertung mit maximal 3 Étoiles Michelin, den berühmten Michelin-Sternen eingeführt.

Mit einem Stern wird eine Küche voller Finesse, die einen Stopp wert ist, gewürdigt (une très bonne cuisine dans sa catégorie, vaut l’étape).

Zwei Sterne erhält eine Spitzenküche, für die sich ein Umweg lohnt (une cuisine excellente, cette table mérite un détour).

Und mit drei Michelin-Sternen krönen die Inspektoren eine einzigartige Küche, die eine Reise wert ist (une cuisine remarquable, cette table vaut le voyage).

Hier sind jeweils die Definitionen der deutschen bzw. der französischen Michelin-Ausgaben wiedergegeben, die sich nicht wortwörtlich entsprechen.

les étoiles

les "macarons"

Der Michelin-Verlag legt Wert auf die Feststellung, dass mit den Sternen ausschließlich die Leistung der Küche honoriert wird, nicht der Service oder das Ambiente des Gastraumes. Waren die Testesser aber auch hiervon angetan, wird das mit dem Symbol eines gekreuzten Bestecks vermerkt. Die schon damals geübte Praxis, sich für die Beschreibung eines Hotels oder eines Restaurants auf maximal drei Zeilen zu beschränken, wird bis heute beibehalten.

Wer das – inzwischen markenrechtlich geschützte – grafische Symbol des Michelin-Sternes entworfen hat, ist nicht bekannt. Mit seinen sechs abgerundeten Zacken gleicht es jedenfalls eher einer Blüte als einem Stern.

Wegen dieser rundlichen Form wird es im Volksmund gelegentlich als →macaron bezeichnet. Obwohl diese doppeldeckerartigen, mit feinen Cremes gefüllten Mandel-Makrönchen zum ganzen Stolz der französischen pâtisserie gehören, wird dieser Beiname vom Michelin-Verlag als Verunglimpfung zurückgewiesen.

Unterhalb der Sterne-Riege werden Restaurants, die immerhin eine gute Mahlzeit zu annehmbarem Preis bieten, entweder mit einem Teller/Besteck-Symbol gekennzeichnet oder, seit den 1990er Jahren, als Bib Gourmand. Bib ist die gebräuchliche Kurzform für Bibendum, das Markenlogo der Reifenfirma, ein aus Pneus zusammengesetztes Männchen.

Zur Entstehung der Werbefigur und zu dem lateinischsprachigen Namen erzählt die Firmenchronik, Édouard sei 1894 am Michelin-Stand auf einer Handelsmesse in Lyon ein Stapel aus Reifen aufgefallen, die für den Versand in helle Stoffbahnen verhüllt waren. Zu seinem Bruder gewandt meinte er belustigt: Mach da mal ein paar Arme dran, und es sieht aus wie ein Mensch! Tatsächlich wurde ein Werbegrafiker beauftragt, aus dieser Idee ein einprägsames Firmenlogo zu kreieren, und es entstand das Michelin-Männchen, wie es in Deutschland genannt wird. Und jener Grafiker hatte zufällig gerade eine Brauereiwerbung entworfen mit dem lateinischen Slogan

nunc est bibendum!

Diese Aufforderung: Nun lasst uns trinken! hatte der altrömische Dichter Horaz 30 v.Chr. an den Anfang einer Ode gestellt, in der er die Erleichterung der Römer nach dem Tod der Erzfeindin Kleopatra und über den Untergang Alexandrias zum Ausdruck brachte.

Michelin übernahm den Spruch in ein Werbeplakat für seine Reifen mit dem Zusatz Also: Auf Eure Gesundheit! Der Michelin-Luftreifen schluckt das Hindernis! (Nunc est bibendum!! C’est-à-dire: À Votre Santé! Le pneu Michelin boit l’obstacle!). Die Grafik zeigte den Reifenmann an einer gedeckten Tafel stehend, den für André Michelin typischen Kneifer auf der Nase, während er einen Sektkelch voller Nägel und Glasscherben erhebt. Seine Tischnachbarn, ebenfalls aus Reifen bestehend, sehen ziemlich löchrig und luftleer aus und sind als pneu X gekennzeichnet.

Der lateinische Trinkspruch wurde schnell als Taufname auf das Reifenmännchen übertragen. Also bereits hier hatten André und Édouard Michelin eine Verbindung zwischen ihren Reifen und kulinarischem Genuss hergestellt. In der Kombination von alkoholischem Genuss und dem Lenken der Motorkutschen sah man seinerzeit offensichtlich noch kein Problem …

In den ersten Jahren des Sternesystems wurden die Michelin-Bewertungen noch von einem Geist geprägt, den der bis heute in Frankreich als Prince des Gastronomes verehrte Journalist Maurice Edmond →Sailland verkörperte: Unter dem Pseudonym Curnonsky hatte er die Gastronomie zu seinem Hauptthema erkoren und war durch eine Buchreihe mit dem Titel La France gastronomique bekannt geworden. In den 27 Bänden beschrieb er am Beispiel von höchstselbst erprobten Restaurants die kulinarischen Besonderheiten der französischen Regionen. Ab 1926 war er auch als inspecteur für den Guide-Michelin unterwegs und wohl auch an den oben zitierten Definitionen der drei Sternen-Stufen beteiligt. Bei seinen kulinarischen Bewertungen machte er sich, ganz in der Tradition des von ihm verehrten →Grimod de La Reynière, einen Namen durch sachlich begründete Kritik, aber gleichzeitig spürbaren Respekt gegenüber den Köchinnen und Köchen. Fernab jeglicher besserwisserischer Anmaßung und stets gepaart mit einer gehörigen Portion Humor. 

Das hob ihn deutlich ab von etlichen späteren Gastro-Kritikern, denen gelegentlich gefühls- und seelenloses Kritikastertum vorgeworfen wurde – und wird. Der Titel Prinz der Gastronomen wurde ihm von rund 1.000 französischen Küchenprofis als Dank für diese wohlwollende Begleitung ihrer Arbeit verliehen.

Curnonsky

Curnonsky trug auch wesentlich dazu bei, dass schon 1933, also nur wenige Jahre nach der Einführung der Michelin-Sterne, mit Mère Brazier die erste und bisher einzige Frau in der männerdominierten Gastronomieküche mit insgesamt sechs étoiles geehrt wurde. Sowohl ihr bouchon in Lyon, der von Curnonsky so genannten capitale mondiale de la gastronomie, als auch ihr Landgasthof in der Nähe der Stadt erhielten die Höchstbewertung. Natürlich profitierte auch dieses Restaurant am Col de la Luère von der neuen Automobilität der Feinschmecker.

Und ein früherer Küchenlehrling von Mutter Brazier hält den bis heute ungebrochenen Langstreckenrekord: Von 1965 bis zu seinem Tod im Jahr 2018 wurde Paul Bocuse mit seinem Restaurant in Collonges-au-Mont-d’Or jedes Jahr mit drei Sternen im Guide Michelin gelobt.

Sterne-Rekord

Während der beiden Weltkriege wurde der jährliche Ausgaberhythmus des Guide unterbrochen. Doch die letzte Edition vor dem Zweiten Weltkrieg, die von 1939, spielte eine geradezu historische Rolle weitab jeglicher kulinarischer Thematik. 1940 wurden die Offiziere der deutschen Truppen mit dem roten Führer ausgestattet, da für den überfallartigen Einmarsch in Frankreich keine aktuelleren und detaillierteren Orientierungshilfen zur Verfügung standen als die darin enthaltenen Straßenkarten, Stadtpläne und Wegbeschreibungen.

Und bevor die alliierten Truppen in der Nacht vom 5. auf den 6. Juni 1944 an der Küste der Normandie landeten, hatte der Michelin-Verlag die 1939er Ausgabe für den geheimen Nachdruck in den USA zur Verfügung gestellt. Denn die deutschen Besatzer hatten in Erwartung der Alliierten vielerorts die Beschilderung der Straßen und geografischen Orte entfernt oder vertauscht, um die amerikanischen und englischen Soldaten in die Irre zu führen. Und diesmal dienten die Landkarten und Stadtpläne des nachgedruckten Guide rouge der Befreiung Frankreichs, Belgiens und damit indirekt ganz Europas von der nationalsozialistischen Flut.

Die zwei Seiten der Medaille ...

Die Figur des Bibendum, bis heute das offizielle Markenzeichen des Reifenherstellers, schmückte auch von Beginn an den Einband des Guide Michelin.

Aber für so manchen Gastronomen hat das Reifenmännchen, oft in der Kurzform Bib genannt, sein werbeträchtiges Dauergrinsen verloren. 

Denn während ein vorher noch verschlafenes Landgasthaus irgendwo in der französischen Provinz durch eine Sterne-Auszeichnung plötzlich zum Ziel von kulinarischem Tourismus werden konnte, folgte nicht selten wenige Jahre danach der Absturz, wenn eben jene begehrten étoiles plötzlich gestrichen wurden, weil die inspecteurs ein Nachlassen der Speisenqualität bemerkt hatten. Natürlich kann man objektive Kriterien an die Kochkunst anlegen, wenn es beispielsweise um die Qualität und Frische der verwendeten Lebensmittel sowie um deren fachgerechte Zubereitung geht.

Das Verhältnis sowohl der Köchinnen und Köche als auch ihrer Gäste zum Guide Michelin ist durchaus nicht einmütig. Einerseits ist die Jagd nach den Sternen noch immer für viele ein Ziel, das schon von der Kochlehre an verfolgt wird. Andererseits ist der kulinarischen Öffentlichkeit nicht immer einleuchtend, warum hier einem gerade neu eröffneten Restaurant schon ein Stern verliehen wird, während dort ein alteingesessenes, quasi zum nationalen Kulturgut zählendes 3-Sterne-Haus zurückgestuft oder gar aus der Sterneliste gestrichen wird. 

Ein prominentes Beispiel ist das La Tour d’Argent im Herzen von Paris, das über vier Jahrhunderte hinweg praktisch alle französischen Könige und Kaiser bewirtet hatte und berühmt ist vor allem für sein spezielles Entengericht, den →canard Tour d’Argent. Als es 1996 zunächst einen Stern im Guide rouge verlor und 2006 gar den zweiten, wurde die Degradierung in den Medien diskutiert wie eine nationale Katastrophe.

Doch auch in der Sterneküche lässt sich über Geschmack schwerlich streiten. Und es gibt bis in die jüngste Vergangenheit Beispiele, bei denen ein vom Sternenuntergang in seiner Ehre gekränkter Küchenchef nicht nur in den wirtschaftlichen Ruin, sondern in den Freitod getrieben wurde.

Kritik an der Kritik

16 Jahre war er als inspecteur für den Guide Michelin in der gehobenen Gastronomie unterwegs. Dann, im Jahr 2004, veröffentlichte Pascal Remy unter dem Titel L’inspecteur se met à table (Der Tester nimmt am Tisch Platz) ein Resümee der gemachten Erfahrungen. Er trägt seine Kritikpunkte zwar auf unterhaltsame, ja oft humorvolle, aber gut nachvollziehbare Weise vor. Auch wenn er wegen einiger Äußerungen gerichtlich zu Schadensersatzzahlungen an Michelin verurteilt wurde, gibt sein (leider nicht auf Deutsch erhältliches) Büchlein aufschlussreichen Einblick in die Arbeit der inspecteurs  des Guide rouge.

Michelin Deutschland

Abgesehen von der 1910er Ausgabe erscheint der jährliche Guide Michelin Deutschland seit 1966. Als erstes deutsches Restaurant wurde 1980 die Aubergine in München mit drei Sternen ausgezeichnet – deren Küche vom Österreicher Eckart Witzigmann geleitet wurde. In der Deutschland-Ausgabe für 2020 sind 255 Restaurants mit einem, 43 mit zwei und zehn mit drei Sternen aufgeführt.

Seit dem Ende des Krieges wurde der Guide Michelin nicht mehr an seiner jährlichen Aktualisierung gehindert und hat sich kontinuierlich als nicht nur ältester, sondern auch einflussreichster Hotel- und Restaurant-Führer der Welt etabliert. Während für die Hotellerie unterschiedlichste und oft kaum nachzuvollziehende Sterne-Bewertungen die Reiseprospekte schmücken, ist bei Restaurants praktisch immer der Guide Michelin gemeint, wenn von Sterneküche die Rede ist.

Lediglich der Gault&Millau, nach Auflage der zweitstärkste Restaurantführer, kann hinsichtlich der internationalen Bedeutung einigermaßen mit dem Guide Michelin mithalten. Henri Gault und Christian Millau hatten aber bei der Gründung ihres Verlages besonders die Nouvelle Cuisine im Blick und legten somit etwas andere Maßstäbe an, nach denen seit 1972 auf Grundlage eines detaillierten, dem französischen Schulwesen entlehnten 20-Punktesystems bis zu fünf toques als Qualitätssymbole vergeben werden. Besonders berühmt für seine turmartig aufragende Toque, die Kochmütze, war Paul Bocuse, der sicher prominenteste Verfechter der Nouvelle Cuisine und vom Gault&Millau ernannter Pape de la Gastronomie. Manche Feinschmecker bevorzugen den Gault&Millau auch, weil er die kulinarischen Leistungen der Restaurants recht ausführlich beschreibt, sich also nicht an das 3-Zeilen-Limit des Michelin hält.

Die Monopolstellung des Guide Michelin gilt längst nicht mehr nur für Frankreich und acht weitere europäische Länder. Seit einigen Jahren schickt Michelin seine Testesser auch in ausgewählte Metropolen wie New York, Singapur und Tokio. Das erste chinesische 3-Sterne-Restaurant wurde 2009 in Hongkong gekürt. 2018 erschien als jüngster Spross der Verlagsfamilie die Thailand-Edition. Bereits auf Anhieb wurde in Bangkok jeweils ein Stern an 16 Restaurants verliehen, drei Häuser erhielten gar zwei Sterne. Und um den Vorwurf der Elite-Orientierung zu entkräften, weist der Michelin gerne darauf hin, dass erst kürzlich ein Verkaufsstand der typisch asiatischen Straßenküche mit einem Bib ausgezeichnet wurde.

Straßenküche in Bangkok

Spöttische Kritik erntete der Michelin-Führer, nachdem ein Restaurant bereits vor der Eröffnung mit einem Stern aufgelistet wurde. Im Gegenzug erschien ein anderes Mal der macaron noch neben dem Namen eines Lokals, das längst seine Pforten geschlossen hatte. Solcherlei Fehler könnte man ja noch als bloße Unachtsamkeiten abtun. Doch Kritikern dienen sie als willkommenes Argument dafür, dass die Vergabe der begehrten Sterne nach schwer nachvollziehbaren Kriterien – um nicht zu sagen willkürlich – erfolge. 2016 beklagte ein französischer Gastronomie-Journalist la dimension du vide professionnel et culturel, das Ausmaß der beruflichen und kulturellen Inhaltslosigkeit, welches die Macher des Guide Michelin, darunter die Deutsche Juliane Caspar als damalige Chefredakteurin, zeigten. Er beschreibt sie als gens charmants et ouverts, certes, mais visiblement dépassés par les enjeux du moment, als sicherlich reizende und weltoffene, aber sichtlich von flüchtigen Reizen überwältigte Leute …, in deren Öffentlichkeitsarbeit … le jeu des étoiles n’est plus le reflet d’une réalité culinaire mais une partie de chaises musicales virant à la pitrerie, zu deutsch: … das Sternenspiel nicht mehr die kulinarische Realität widerspiegelt, sondern wie eine Runde des Reise-nach-Jerusalem-Spiels zur Posse gerät.

Fluch und Segen ...

Immer mehr junge Köchnnen und Köche allerdings wollen an besagtem Sternenspiel erst gar nicht teilnehmen. Vereinzelt haben sogar Gastronomen ihre bereits erhaltenen Sterne demonstrativ zurückgegeben. Zu hoch ist vielen der Aufwand, sie stecken ihre Energie und nicht zuletzt ihr Geld lieber in Konzepte, die ihnen Unabhängigkeit und Selbstverwirklichung ermöglichen. Denn obwohl Michelin nach wie vor betont, ausschließlich die kulinarischen Leistungen zu bewerten, fühlen sich Wirte oft nach der Verleihung eines Sterns genötigt, zusätzlich in die Ausstattung des Gastraumes – edle Gläser und feines Porzellan auf Damasttüchern müssen schon sein! – oder ins Personal – jetzt brauchen wir aber auch einen Sommelier! – zu investieren. Und noch viel schwieriger als der Erwerb eines Michelin-Sternes ist der Umgang mit dem Verlust eines solchen! Nicht nur die persönliche Schmach macht den Betroffenen zu schaffen. Denn bei der Verleihung haben sich jene bestätigt gefühlt, die das gute Essen schon lange vorher gut fanden. Aber nach dem Entzug eines Sternes mutmaßen selbst manche dieser alten Stammgäste schnell, das müsse ja schon irgendeinen Grund haben – und bleiben weg!

Wie sehr sich mancher Koch vom Druck der Sternejagd eingeengt fühlt, zeigen die bereits erwähnten tragischen Fälle vom Ende im Suizid. Natürlich sind das sehr wenige, extreme Ausnahmen, aber wohl auch die Spitze des sprichwörtlichen, selbst für die meisten Gäste eines Sterne-Restaurants kaum sichtbaren Eisberges. Andererseits kann man sicher auch nicht leugnen, dass die Michelin-Bewertungen dazu beigetragen haben, dass sich eine qualitätsorientierte, mit frischen, regionalen und gesunden Zutaten arbeitende Kochkunst auch ohne elitäres Gehabe gegenüber der rein profitorientierten, im Sinne der Lebensmittelindustrie agierenden Einheits- und Fast-Food-Ernährung ihren Platz erhalten hat. Letztendlich wird es an den Gästen liegen, diesen spannungsreichen Wettkampf zu entscheiden.

sehenswertes Sterne-Kino

1976 haben die Schauspieler Louis de Funès und Coluche das Problem auf sehr humorvolle, aber doch hintergründige Weise thematisiert. In dem Film

L’aile ou la cuisse

(deutscher Titel: Brust oder Keule) verkörpert de Funès den Gastronomiekritiker Charles Duchemin, der zwar die französische Kochkunst vehement gegen die Lebensmittelindustrie und Fast-Food-Ketten verteidigt, aber mit seinem Restaurantführer schon so manchen Wirt in den Ruin getrieben hat. Natürlich ist die Klangähnlichkeit des Guide Duchemin mit dem Guide Michelin kein Zufall. Und das Happy End besteht selbstverständlich im grandiosen Sieg der traditionellen cuisine française!

In der ebenfalls köstlichen amerikanischen, aber in Frankreich spielenden Filmkomödie

The Hundred-Foot Journey

(dt.: Madame Mallory und der Duft von Curry) wird das Streben nach Michelin-Sternen zum verbindenden Element in einer interkulturellen, kulinarisch-romantischen Liebesgeschichte zwischen einem indischen Jungkoch und einer ebenso jungen französischen Köchin.

Ohne direkte Anspielung auf den Namen Michelin, aber doch thematisch passend erzählt der Animationsfilm

Ratatouille

2007 von einer mit außergewöhnlichem Geschmacks- und Geruchssinn ausgestatteten Ratte, die einem eigentlich recht untalentierten Küchenlehrling

gegen den Widerstand von böswilligen, geltungssüchtigen Kritikastern zu höchsten gastronomischen Ehren verhilft. Der ärgste Gegner wird schließlich mit einer ratatouille, zubereitet von le rat, der Ratte, so intensiv an seine glückliche Kindheit erinnert, dass er zum Stammgast der beiden Protagonisten wird. Der Kritikaster verwandelt sich also quasi in jenen wahrhaft genießenden Gastrosophen, der schon durch reale Vorbilder wie Grimod de La Reynière oder Curnonsky verkörpert wurde.

Wie schön wäre es doch für alle Köchinnen und Köche sowie für all ihre Gäste, wenn sich dieser Geist auch außerhalb der Welt von Film und Literatur erhalten ließe – und warum nicht auch wieder in der Welt der Restaurantführer …?