Ulis Culinaria

Stéphanie und Caroline Tatin

Stéphanie *1838, †1917;  Caroline  *1847, †1911

Tu honoreras Stéphanie et Caroline comme les mères de ce monde!

So lautet die zweite von 10 Regeln, die sich die Mitglieder der Confrérie des Lichonneux de Tarte TATIN de Lamotte-Beuvron im Jahr 1979 selbst auferlegt haben: Du verehrst fortan Stéphanie und Caroline als die Mütter dieser Welt!

Womit sich die beiden Schwestern solche göttinnengleiche Erhöhung verdient haben, steht in Regel N° 1: Tu aimeras la Tarte TATIN de tout ton cœur et de tout ton âme! (Du wirst die TATIN-Torte von ganzem Herzen und von ganzer Seele lieben!)

Was muss das für eine Torte sein!?

Kurz gesagt: ein Apfelkuchen.

Aber was macht ihn so besonders, dass er mittlerweile weit über die Grenzen des Landes hinaus fast zum Inbegriff französischer Konditoreikunst geworden ist?

Na ja, zumindest, wenn man der meistverbreiteten Entstehungsgeschichte glauben will – und das tun z.B. die Brüder und Schwestern der Confrérie des Lichonneux nicht so recht – war es ein ziemlich dummes Missgeschick. Aber die Bruderschaft bekennt sich dazu, das Resultat dieses angeblichen Fehlers geradezu verschlingen zu wollen. Das umgangssprachliche Verb licher bezeichnet normalerweise den ausgiebigen Genuss alkoholischer Getränke, im Deutschen etwa picheln.

Fakt ist, dass die beiden Schwestern im Jahr 1894 in dem Städtchen Lamotte-Beuvron, etwa 30km südlich von Orléans, einen Gasthof übernahmen. Sie traten damit das Erbe von früheren Angehörigen der Familie Tatin an, die in den 1770er Jahren hier eine Bäckerei eröffnet hatten, welche sich im Lauf der Zeit zu einem Gastbetrieb erweiterte.

Die unverheirateten und deshalb auch als demoiselles in Erinnerung gebliebenen Frauen profitierten von der neuen Eisenbahnlinie, mit der nun immer öfter natursuchende Menschen aus dem 140km entfernten Paris über ein Wochenende hierher kamen. Die waldreiche Sologne im Loiretal war seit jeher für gute Jagdgründe bekannt. Für die Jagdgesellschaften richteten die Sœurs Tatin Zimmer ein, und es entstand bald das Hôtel Tatin Terminus. Der letzte Namensteil bedeutet Endstation und bezieht sich auf den damals neuen Bahnhof von Lamotte, an dem die Städter aus Paris direkt gegenüber vom Hotel ausstiegen.

Und mit dem Apfelkuchen soll es sich folgendermaßen zugetragen haben: Als wieder einmal Hochbetrieb herrschte, soll Stéphanie, die für die Küche zuständig war (während Caroline die Gäste bediente), mit der Zubereitung ihrer Spezialität beschäftigt gewesen sein, einem mit karamellisierten Äpfeln belegten Mürbeteigboden. Doch diesmal vergass die schon immer etwas schusselige Fanny – so rief man Stéphanie normalerweise – in der hektischen Betriebsamkeit, die Tarte-Form vor dem Einlegen der Apfelschnitze mit Teig auszukleiden. Als sie ihren Lapsus bemerkte, habe sie einfach den schon ausgerollten Teig auf die Apfelfüllung gelegt, das Ganze gebacken und anschließend auf eine Kuchenplatte gestürzt. Das Ergebnis der Vergesslichkeit war überraschend delikat: Ein schön kross gebackener, weil nicht durchweichter Teig, der nach dem Umdrehen als Boden für eine saftige Apfelfüllung diente. Und das Butter-Karamell (s.u.) bildete nun eine appetitlich goldbraune Glasur der Oberfläche.

Tarte Tatin

Da die Zufallserfindung bei den städtischen Gästen gut ankam, wurde sie wiederholt und erst im Hotel Tatin, dann von dort aus immer weiter unter der Bezeichnung Tarte Tatin beliebt.

Eine etwas weniger appetitliche Version der Geschichte besagt, Stéphanie habe die schon ofenfertige tarte aus Versehen fallen gelassen und den Inhalt, um die Gäste möglichst rasch zu bedienen, einfach irgendwie wieder in die Form zurückbefördert. Dabei seien dann die Äpfel nach unten und der Teigboden nach oben geraten.

Weniger romantische Küchenhistoriker, so auch die Confrérie, weisen dagegen darauf hin, dass diese Art von gestürztem Apfelkuchen schon lange in der Sologne und dem gesamten Orléanais bekannt gewesen und lediglich durch die Pariser Gäste der Tatin-Schwestern überregional mit deren Namen verbunden worden sei.

Wieder andere meinen, die Schwestern hätten das Rezept aus der Normandie bekommen, der mit Calvados und cidre für ihre Äpfel bekannten nordfranzösischen Region.

1926 veröffentlichte der Gastronomiekritiker →Curnonsky das Rezept erstmals schriftlich in seinem Werk La France gastronomique, genauer in dem Band, der sich mit den kulinarischen Spezialitäten des Orléanais befasst.

Jener prince des gastronomes, wie man Curnonsky ehrenvoll titulierte, soll gar die amüsante Geschichte von dem Missgeschick der sœurs Tatin lediglich erfunden haben, als die Apfel-Tarte erstmals im seinerzeit berühmtesten Schickeria-Restaurant von Paris, im Maxim’s, serviert wurde.

Die Gäste sollen jedenfalls von der humorigen Erklärung Curnonskys begeistert gewesen sein und sie durch Weitererzählen zur Wahrheit verfestigt haben. Dazu hat wohl auch die Anwesenheit von Journalisten beigetragen, die für mediale Verbreitung der Geschichte sorgten.

Die Schwestern Stéphanie und Caroline haben 1906 ihr Hotel verkauft. Aber bis heute wird der legendäre Apfelkuchen auch dort nach dem originalen Rezept zubereitet. Der noch von den Schwestern benutzte Herd steht heute als Dekoration in der Bar des Hôtel Tatin.

Die Äpfel werden geschält, entkernt und in nicht zu kleine Segmente geschnitten. Zucker wird in einer schweren kupfernen oder gusseisernen flachen Form goldgelb karamellisiert und mit Butter verrührt. Dann kommen die Apfelspalten dazu und werden zart angeschmolzen. Man sollte dafür möglichst Sorten wählen, die unter Hitze nicht gleich zu Apfelmus zerfallen. Dazu trägt auch bei, dass man die Äpfel in relativ großen Stücken belässt, manche Rezepte empfehlen, sie lediglich zu vierteln. Und die Früchte sollten mit ausreichend Säure dem Karamell Paroli bieten können. Die Tarte-Bruderschaft empfiehlt Jonagold bzw. -red oder Royal Gala.

Die halbmondförmigen Apfelschnitze werden von außen nach innen schön ringförmig und eins hinter dem anderen in dem Karamell angeordnet und dann mit dem dünn ausgewalzten pâte brisée, Mürbeteig, bedeckt. Inzwischen wird auch häufig →Blätterteig, französisch pâte feuilletée, genommen, wobei einem Fertigprodukte aus dem TK-Regal einige Arbeit ersparen können.

Nach dem Backen wird die knusprige Teigdecke durch Umstürzen zum Boden. Die Tarte wird am Besten noch ofenfrisch, also warm und wahlweise mit crème Chantilly/fouettée (Schlagsahne) und/oder crème glacé (Sahneeis mit diversen Aromen) serviert. Das Stürzen des Kuchens wird durch moderne Backformen mit Antihaftbeschichtung erleichtert, die ein Festbacken des buttrigen Karamells verhindert.

Solche Abwandlungen wie Blätterteig oder das Garnieren der Tarte mit Sahne oder Eiscreme lehnt die Confrérie natürlich strikt als Schnickschnack ab. Die Regel N° 7 lautet in voller, wenn auch nicht ganz so ernst zu nehmender Ernsthaftigkeit: Tu interdiras les ajouts de produits qui masquent son authenticité! Du wirst dich gegen jede Zutat verwahren, die ihre Echtheit verfälschen! Und am Ende des auf der eigenen Website veröffentlichten recette originale heißt es schlicht, aber bestimmt:

Servir tel quel, sans rien y ajouter!

So servieren, wie sie ist, ohne irgendetwas hinzuzufügen!

Und: Bonne dégustation!

Dem ist wahrhaftig nichts hinzuzufügen …