*1872 Angers, †1956 Paris
So hat es der kleine Maurice von Kindesbeinen an kennengelernt, in der Küche seiner Großmutter, die ihn nach dem Tod der Mutter aufzog. Die dort gepflegte cuisine angevine, die Kochkunst des Anjou, hat er – mit dem Humor, der ihn zeitlebens auszeichnete – als paradis de la digestion paisible beschrieben, als Paradies der friedvollen Verdauung. Hier koche man, so schreibt er später, zwar nicht so reichhaltig wie im Burgund, nicht so raffiniert wie in der Bresse, und auch nicht so glanzvoll wie im Périgord. Aber dafür vernünftig, gediegen und bodenständig – wie ein bon enfant, ein guter Kerl eben.
Obwohl er selbst das Kochen nie richtig lernt – nach eigener Aussage reicht es allenfalls mal für ein paar gebratene Eier – hat ihn die simple Küche aus Angers für sein ganzes weiteres Leben geprägt. Und gutes Essen und Trinken genießt er zeitlebens in aller Ausführlichkeit. Auf jener grundsoliden Basis wird er zu einem Gastrosophen und überzeugten Verfechter der französischen Küche, wie es davor und danach nur wenige gegeben hat.
Statt des Kochhandwerks verlegt er sich auf die Kunst des Schreibens. Dazu zieht er mit 18 Jahren nach Paris und beginnt an der renommierten École Normale Supérieure ein Literatur- und Journalistikstudium. Aber in den Seminarräumen des Quartier Latin findet man ihn seltener als in den Cafés, Bars, Cabarets und Restaurants des schillernden Universitäts-Viertels. Auch in dem einen oder anderen Etablissement der Rotlichtviertel war er nicht völlig unbekannt. Das gesellige Leben der Belle Époque bestreitet er mit den Honoraren für Artikel und kleinere Erzählungen, die in diversen Zeitungen erscheinen.
Als nègre littéraire, als Ghostwriter (→Dumas) schreibt er für überbeschäftigte Schriftsteller, unter ihnen Henry Gauthier-Villars, berühmt unter dem Pseudonym Willy und als Ehemann der später noch berühmteren Colette, zu der Sailland eine innige Freundschaft pflegt. Bekannte und weniger bekannte Persönlichkeiten aus Halbwelt, Kunstszene und Politprominenz – und nicht selten die hübschen Tänzerinnen des Moulin Rouge – gehören zu seinem Umgang. Sowohl in den Speisesälen der Restaurants als auch in den verschwiegenen Séparées dahinter genießt er das Leben in vollen Zügen.
Mit dem Szenekünstler Toulouse-Lautrec soll er sich beispielsweise gerne über kulinarische Detailfragen wie die besten Zubereitungen für Fasane oder Rebhühner und andere lebenswichtige Dinge intensive, aber freundschaftliche Streitgespräche geliefert haben.
Irgendwann in dieser Zeit überlegt er, ob er sich nicht auch ein Pseudonym zulegen solle. Da stellt jemand als Vorschlag für eine passende Namensendung die Frage pourquoi pas -sky? (warum nicht -sky?).
Gerade ist nämlich die alliance franco-russe auf ihrem Höhepunkt, und in der Pariser Szene findet man alles chic, was an Russland erinnert. Maurice übersetzt die rhetorische Frage ins Lateinische und erhält cur non sky? Seitdem zeichnet er nicht nur seine Zeitungsbeiträge mit Curnonsky, sondern das Pseudonym wird mehr und mehr zu seiner Identität, viele seiner Bekannten und Freunde späterer Jahre kennen seinen eigentlichen Namen nicht einmal mehr. 1914, bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges, kommt er gar für ein paar Tage in Haft, da man ihn für einen russischen Spion hält.
Natürlich konnte es nicht ausbleiben, dass sich die berufliche Schreiberei und seine kulinarische Leidenschaft irgendwann inniglich verbinden. Nach einer Asienreise im Jahr 1900 schreibt er einen Artikel über fernöstliche Essgewohnheiten in einem so warmherzigen und zugleich sachkundigen Stil, dass ihn Le Matin und Le Journal, zwei der größten französischen Tageszeitungen jener Zeit, mit regelmäßigen gastronomischen Kolumnen beauftragen.
Obwohl er sich später durchaus anerkennend über die Haute Cuisine äußert, wie sie beispielsweise der damals schon weltberühmte →Escoffier in den Grand Hôtels zelebriert, fährt er für seine gastronomischen Erlebnisberichte lieber in die banlieue, das Umland von Paris, und dann immer weiter hinaus in die französischen Provinzen. Gezielt begibt er sich auf die Suche nach Landgasthäusern, die der eingangs zitierten Maxime über die Einfachheit in der Küche entsprechen. Und in lockerem Stil, gewürzt mit Anekdötchen und viel Humor, lässt er die städtische Leserschaft an seinen kulinarischen Entdeckungen teilhaben. Mit dem befreundeten Journalisten Marcel Rouff unternimmt er ausgedehnte Reisen und begründet eine eigene Buchreihe, in der nach und nach die Küchen der historisch gewachsenen französischen Regionen thematisiert werden.
Der erste Band von 1921 befasst sich mit dem Périgord, insgesamt erscheinen unter dem Titel La France gastronomique 27 Bände. In dem Band zur Region des Orléanais beschreibt er beispielsweise jene gestürzte Apfel-Tarte, die unter dem Namen der Schwestern →Tatin über Frankreich hinaus bekannt wird. Und in der Ausgabe zum Lyonnais verleiht er Lyon den Ehrentitel der capitale mondiale de la gastronomie und verhilft durch lobende Erwähnung dem bouchon von Mère →Brazier zu überregionaler Berühmtheit.
Bei diesen kulinarischen Reisen kreuz und quer durch das französische hexagone – er nennt sich bald selbst gastronomade – nutzt er vor allem das noch recht junge Verkehrsmittel Automobil. Um auch den Lesern von France gastronomique die Orte im wahrsten Sinn des Wortes erfahrbar zu machen, werden Landkarten der jeweiligen Region abgedruckt, in denen die beschriebenen Restaurants und auberges eingezeichnet sind. Alle Bände sind untertitelt als Guide des merveilles culinaires et des bonnes auberges françaises (Führer zu den kulinarischen Schätzen und guten Gasthäusern Frankreichs).
Und daraus ergibt sich wiederum eine Verbindung, die bis heute nachwirkt:
Bereits seit 1900, passend zur Exposition Universelle in Paris, vetreibt der Reifenhersteller →Michelin an die neuen Automobilisten eine Broschüre mit Adressen von Tankstellen, Werkstätten, Reifenhändlern und, falls wegen einer Panne nötig, Hotels und Restaurants. Der Guide Michelin, wegen seines roten Einbandes bald als guide rouge bekannt, wird zunächst kostenlos an die Käufer der von Michelin entwickelten Luftreifen verteilt, später aber in gestiegener und jährlich aktualisierter Auflage in den Verkauf gebracht.
Ab etwa 1926 trägt Curnonsky mit kommentierten Erwähnungen von Hotels und Restaurants entlang der neu entstehenden Autostraßen dazu bei, dass sich der Pannenhelfer nach und nach in den gastronomischen Reiseführer verwandelt, der mit dem 3-Sterne-Bewertungssystem noch heute als der wichtigste seiner Art gilt. Auf Curnonskys Reisegewohnheiten werden auch die noch heute im Guide rouge zu findenden Definitionen zurückgeführt, denen zufolge ein Hotel oder ein Restaurant einen Umweg verdient (mérite un détour) oder gar eine Reise wert ist (vaut le voyage). Natürlich sollten solche Anregungen nicht zuletzt auch den von Michelin gewünschten Reifenabrieb und -absatz steigern …
Den zweifelhaften Ruf, die Existenz von Gastwirten und Köchen nach Belieben fördern oder gleichermaßen auch vernichten zu können, erwirbt der Guide Michelin allerdings erst nach Curnonsky. Denn dieser macht sich, ganz in der Tradition des von ihm verehrten →Grimod de La Reynière, einen Namen durch Sachkompetenz, gepaart mit ausgewogener, respektvoller Bewertung und, fernab jeglicher besserwisserischer Anmaßung, stets mit einer gehörigen Portion Humor. Das hebt ihn deutlich ab von einem reinen Gastro-Kritiker und berechtigt seine Bezeichnung als gastronomisch ambitionierten Philosophen, kurz: Ein wahrer Gastrosoph.
So lautet – um nur ein kleines Beispiel zu nennen – eine seiner Empfehlungen an Auto-Touristen, an der Nordsee, z.B. in Dunkerque, auf eine Bouillabaisse à la marseillaise lieber zu verzichten, dafür aber in Marseille nun mal keinen authentischen Sauerkrauteintopf zu erwarten. Ihm geht es als Gastronomiekritiker nicht, wie das später in Louis de Funès‘ L’Aile ou la Cuisse (deutscher Titel: Brust oder Keule) oder in dem Animationsfilm Ratatouille persifliert wird, um willkürliches Loben oder Tadeln, sondern darum, die Eigenheiten der regionalen Küchen zu respektieren – und vor allem, sie zu genießen! Und er selbst tut das ausführlichst, wie seine stetig zunehmende Leibesfülle beweist.
Für anerkennende Belustigung sorgt, dass er gelegentlich dasselbe Menu gleich zweimal an einem Abend bestellt – natürlich nur, um bei der anschließenden Bewertung ja keinen Fehler zu machen …
Die Profis am Herd danken Cur, wie sie ihn liebevoll abkürzen, diese empathische Haltung: 1927 wird er von 3.000 französischen Köchinnen und Köchen zum Prince des Gastronomes gekürt. Und ein Jahr später ehrt ihn der französische Staat für seine Verdienste um das Ansehen der cuisine française durch die Ernennung zum Ritter der Légion d’Honneur.
Neben der Mitarbeit am Guide Michelin ist Curnonsky an etlichen weiteren Projekten beteiligt. 1930 gründet er mit Freunden die Académie des gastronomes und drei Jahre später die Académie du vin de France, beide nach dem Vorbild der altehrwürdigen Bewahrerin des französischen Sprachschatzes, der Académie Française. 1934 erscheint unter seiner Leitung die erste Ausgabe der Revue La France à table. Die Zahl seiner kulinarischen Bücher wird schließlich auf insgesamt etwa 70 anwachsen. Etliche davon sind inzwischen zu Klassikern der französischen Küchenliteratur geworden.
Viele dieser Aktivitäten müssen während des Zweiten Weltkrieges eingestellt oder zumindest unterbrochen werden. Curnonsky selbst verbringt die Jahre der deutschen Besatzung im Gasthof einer befreundeten Köchin in der Bretagne. Wieder zurück in Paris, setzt er sein journalistisch-kulinarisches Engagement unvermindert fort, was auch zunehmend außerhalb Frankreichs wahrgenommen wird. So wird er zum ambassadeur de la cuisine française, zum Botschafter der französischen Küche. Und er gewinnt mehr und mehr Kolleginnen und Kollegen der schreibenden Zunft dafür, sich mit ihm für die
Bewahrung der kulinarischen Traditionen einzusetzen. Unter der Tätigkeitsbeschreibung gastronomischer Journalismus versammelt er sie ab 1954 alle in der Association professionelle des chroniqueurs et informateurs de la gastronomie et du vin. Einer der Mitbegründer heißt Francis Amunategui, und nach wie vor verleiht die APCIG jedes Jahr den
Prix Amunategui-Curnonsky
an Journalistinnen und Journalisten, die sich in besonderer Weise um den Ruf der französischen Kochkunst verdient gemacht haben.
In seiner umfangreichen Literatur unterscheidet Curnonsky diese französische Kochkunst feinsinnig in vier Kategorien:
Die haute cuisine, wie sie seit →Carême praktiziert wird, ist für ihn une parure de la France, ein luxuriöses Schmuckstück, das seinem Land zur Außendarstellung gut stehe. Gleichzeitig kritisiert er sie als cuisine pour milliardaires!
Die cuisine bourgeoise bezeichnet er als Stolz unserer guten Haushälterinnen, die selbst mit einem einfachen Mahl das Lebensgefühl steigern können.
In der cuisine impromptue, der improvisierten Stegreif-Küche, können ein dummerweise vor die Flinte gelaufenes Rebhuhn, ein leider vom Auto überfahrener Hase, eine im Garten des Nachbarn gefundene Handvoll Pilze und weitere – dem Humor Curnonskys entsprungene – Zufälle mit etwas spontaner Phantasie ein köstliches Mahl ergeben.
Aber ohne jeden Zweifel bevorzugt Curnonsky die Küche der vierten Kategorie, die cuisine régionale, die er als Kind im Anjou und dann auf seinen kulinarischen Reisen entdeckt hat.
1946 bekennt er, dass er nun bereits seit 55 Jahren auf seiner Tour de France gastronomique durch die 32 Provinzen unterwegs sei, dass er aber noch längst nicht alles erkundet – respektive erschmeckt – habe.
Während nicht wenige Gastronomiekritiker nach Curnonsky von Köchinnen und Köchen eher gefürchtet als geachtet wurden, bleibt er selbst bis zu seinem Tod der Prince des Gastronomes, zu dem man ihn schon 1927 gekürt hatte. Zu seinem 80. Geburtstag am 12. Oktober 1952 erweisen ihm 80 Gastronomen in Paris und dem Umland eine besondere Ehrung.
Am Stammplatz von Cur in ihrem jeweiligen Restaurant bringen sie folgende Messing-Plakette an:
(Dieser Platz gehört Maurice Edmond Sailland Curnonsky, erkorener Prinz der Gastronomen, Verfechter und Darsteller der französischen Kochkunst, Ehrengast dieses Hauses).
Der Ehrengast bedankt sich in der Revue Cuisine et Vins de France, die das Geburtstagsgeschenk initiiert hatte, mit einem Wortspiel, ganz seiner Warmherzigkeit entsprechend:
Merci de tout – Cur!
(Danke für alles – Cur!). Ersetzt man die Kurzform seines Pseudonyms durch das gleichlautende Wort cure, wird daraus Danke für all Eure Fürsorge!
Und er lässt sich das Geburtstagsgeschenk ausführlich schmecken: Nacheinander, über rund drei Jahre verteilt, nimmt er an allen 80 Ehrentischen Platz, um sein jeweiliges Lieblingsmenu zu genießen.
Doch nicht lange danach, am 22. Juli 1956, verbreitet sich wie ein Lauffeuer die Kunde vom unerwarteten Tod Curnonskys: Man findet ihn tot auf dem Bürgersteig vor dem Haus N° 14, Place Henri-Bergson im 8e Arrondissement. Das Fenster seiner Wohnung im dritten Stockwerk darüber ist weit geöffnet. Vermutungen, es könne sich um Selbstmord handeln, werden rasch verworfen, denn selbst im hohen Alter kannte man ihn als Genießer in allen Facetten. Viel eher könne eine Diät, die er kurz zuvor verordnet bekommen hatte und die sein Körpergewicht auf unter 120kg schrumpfen ließ, ihn dermaßen geschwächt haben, dass er beim morgendlichen Öffnen des Fensters womöglich das Gleichgewicht verloren habe …
Immer noch halten Köchinnen und Köche in Frankreich die Erinnerung an ihren Prinzen in Ehren. In so manchem Restaurant findet man Zubereitungen, für die er wohl ganz besonders schwärmte, auf der Speisekarte mit seinem Namen verbunden. Und dass er sich für sehr viele gute Speisen gerne auch mehrmals an den Tisch setzte, steht außer Frage. Ob nun eine galette à la Curnonsky, œufs cocotte oder médaillons de veau Curnonsky, ein gigot façon Curnonsky oder, nach seinem Ehrentitel, sole petit prince – ob im vornehmen Restaurant eines Grand Hôtel oder in einer noch als Geheimtipp geltenden Auberge irgendwo in der französischen Provinz – so oder ähnlich bezeichnete Gerichte kann man getrost bestellen.
Der Sterne-Koch Paul Haeberlin, enger Freund von →Paul Bocuse, gehörte mit seiner Auberge de l’Ill im elsässischen Illhaeusern nach Curnonskys Typologie eindeutig zur haute cuisine. Seine kulinarische Reminiszenz an den prince des gastronomes:
Médaillons de veau Curnonsky.
Die aus dem Kalbsfilet geschnittenen Medaillons werden kurz gebraten und mit blanchierten grünen Spargelspitzen und einer feinen Trüffel-Sahne-Sauce serviert.
Und selbst wenn es nach seinem Tod noch mehr als ein halbes Jahrhundert gedauert hat: Die Anerkennung des
repas gastronomique des Français
als Immaterielles Weltkulturerbe durch die UNESCO im Jahr 2010 ist nicht zuletzt auch das Verdienst von leidenschaftlichen kulinarischen Botschaftern wie Curnonsky – der, wie gesagt, als Dilettant am Herd selbst nicht mehr vermochte als ein Omelette zu braten, der aber mit Körper und Geist die Werke der Künstlerinnen und Künstler am Herd sehr wohl zu schätzen und zu genießen wusste.
Neben seiner anerkannten Expertise in Sachen Essen und Trinken beruhte die Beliebtheit Curnonskys auf seinem Humor. Die schon früh ausgebildete Leibesfülle wurde gerne von Karikaturisten als markantes Merkmal genutzt. Aber selbst über so manches gesundheitliche Problemchen, das sie ihm bereitete, machte er sich am liebsten selbst lustig. So kommentierte er einen Arztbesuch mit dem (nur auf Französisch möglichen) Wortspiel:
J’ai trop d’urée. J’ai trop duré.
(Ich habe zu viel Harnstoff. Ich lebe schon zu lange.)
Und die fiktive, in einer humoristischen Zitatesammlung veröffentlichte Grabinschrift aus unbekannter Feder hätte ihm sicher gut gefallen:
Ci-gît Curnonsky. Mort de la tombe voisine, veille sur tes pissenlits, il te mangererait les racines!
(Hier ruht Curnonsky. Toter im Nachbargrab, pass‘ auf deinen Löwenzahn auf, sonst futtert er dir seine Wurzeln weg!)