Ulis Culinaria

Lady Mary Victoria Curzon

*1870 Chicago, †1906 London

Seit 1988 steht sie auf der Liste der bedrohten Tierarten: Die Grüne Meeresschildkröte. Der Grund für die Gefährdung der Art Chelonia mydas wird klar an ihrer volkstümlichen Bezeichnung als Suppenschildkröte. Zwar wurden die Tiere, weil sie es lange ohne Nahrung aushalten, schon seit jeher als lebender Schiffsproviant von Seefahrern auf großer Fahrt mitgenommen, was jedoch den Fortbestand der Art nicht gefährdete.

Schildkrötensuppe

Consommé Lady Curzon

Chelonia mydas

Aber die Engländer, die sie als Kolonialherren in Indien kennengelernt hatten, brachten das Fleisch der zwei bis drei Zentner schweren Panzertiere im 18. Jh. als exotische Delikatesse auf vornehmen Tafeln derart in Mode, dass eine regelrechte Massenjagd einsetzte. Auch andere Schildkrötenarten aus Salz- und Süßwasser, die in Asien zur traditionellen Nahrung gehörten, kamen in die englische turtle soup. Ihre exotische Note bekam die klare Suppe auch wegen der besonderen Kräuter und Gewürze, wie sie beispielsweise für indische Curry-Gerichte verwendet werden.

Die Kräuter findet man hin und wieder noch als fertige Würzmischung unter der Bezeichnung Schildkröten-Kräuter. Typisch sind Basilikum, Koriander, Rosmarin, Thymian und andere, dazu bringt Zitronenabrieb Frische in den Topf. Das kleingewürfelte Schildkrötenfleisch, das die Einlage bildete, wurde gerne mit Kalb- oder Geflügelfleisch ergänzt. Wegen seines festen Fleisches war auch der Sterlet, ein Fisch aus der Stör-Familie, beliebt. Der Lebensmittelhandel bot Schildkrötensuppe schließlich als Fertiggericht in Dosen an, sodass sie auch für weniger betuchte Menschen 

erschwinglich wurde. Als noch preiswerterer Ersatz diente die mock turtle soup. Die falsche Schildkrötensuppe (engl. mock = Nachahmung/Attrappe) bestand aus Innereien und hellem Fleisch von Kalb.

Aufgrund der historischen Verbindungen zwischen der britischen Monarchie und dem deutschen Fürstenhaus Hannover wurde eine eher dicke, eintopfartige Mockturtlesuppe zu einem beliebten Gericht in und um die niedersächsische Hauptstadt und in anderen Ecken Norddeutschlands.

Mary Victoria Leiter wird als Tochter eines wohlhabenden amerikanischen Kaufmanns von Privatlehrern und Gouvernanten erzogen, die vor allem ihre künstlerischen und sprachlichen Talente fördern. Mit 18 Jahren kommt sie erstmals nach England und findet Anschluss in der gehobenen Gesellschaft des British Empire. 1895 heiratet sie Sir George Nathaniel Curzon, Lord of Kedlestone, wodurch sie zu Lady Curzon wird. Als ihr Gatte drei Jahre später zum Viceroy of India ernannt wird, zieht die junge Familie nach Kalkutta, und sie darf sich Vizekönigin (Vicereine) von Indien nennen.

Lady Curzon, 1903

Natürlich empfing man in solch herausragender Position häufig Gäste zu festlichen dinners, und gerne wurde auch im Haus der Curzons turtle soup aufgetischt. Hin und wieder wurde die Suppe auf Geheiß der Lady mit etwas Sherry geschmacklich aufgewertet. Es handelte sich dabei um eine klare, konzentrierte Suppe, im Küchenfranzösischen consommé genannt. So fand die alkoholisierte Version der Schildkrötensuppe als Consommé Lady Curzon ihren Platz im britischen, dann auch im internationalen Speiseplan der feineren Gesellschaft.

Was Lady Curzon auf die Idee mit dem Sherry gebracht hat, ist nicht ganz sicher. Jedenfalls ist der Duft des Alkohols beim Servieren zunächst unter einer leicht gratinierten Sahnehaube auf der Suppentasse verborgen. Eine Geschichte besagt, Lady Curzon sei selbst alkoholkrank gewesen und habe so versucht, ihre Sucht zu kaschieren. Eine andere führt die Erfindung auf einen Gast zurück, der strenger Abstinenzler war und den die Gastgeberin nicht verprellen wollte.

Andererseits habe sie aber auch die anderen Gäste, für die ein alkoholisches Getränk unbedingt zum Essen gehörte, nicht enttäuschen wollen und so zu dem kleinen Trick gegriffen. Wer also den Alkohol auch mit der Suppe auslöffeln will, sollte den Sherry erst kurz vor dem Servieren dazugeben, sonst verfliegt er rasch. Statt des Sherry kann auch Madeira genommen werden, eine etwas kräftigere Anreicherung mit Cognac wird oft als Sir James aufgetischt.

In Johannes Mario Simmels Roman Es muß nicht immer Kaviar sein (→Baker) legt der Agent wider Willen und Feinschmecker aus Überzeugung, Thomas Lieven, bei einem Menü den Grundstein für ein lukratives Bankgeschäft, mit dem er sich zur Ruhe setzen will. Als Vorspeise serviert er seinem zwielichtigen Opfer eine feine Consommé Lady Curzon. Er rührt die Sahne allerdings in die Suppe ein, anstatt sie als Haube zu gratinieren.

Den Trick mit der Haube, die die Aromen der Suppe erst explosionsartig freigibt, wenn der Gast sie öffnet, hat Paul →Bocuse bei seiner berühmten →Soupe VGE ebenfalls angewandt. Statt der Sahnehaube hat er sogar eine stabile Teigkruste darübergebacken.

Immerhin hat Lady Curzon einiges für den Erhalt anderer bedrohter Tierarten, die sie in Indien kennenlernte, getan. Vor allem das schon damals wegen angeblicher Wunderkräfte seines Horns gejagte Panzernashorn hatte es ihr angetan, sodass sie ihren Ehemann überredete, eine geschützte Region einzurichten. Das Gebiet ist bis heute unter dem Namen Kaziranga-Nationalpark im äußersten Nordosten des Subkontinents mit über 400km² eines der wichtigsten Refugien für die Nashörner und andere gefährdete Tiere.