Ulis Culinaria

Valéry Giscard d'Estaing

*1926 Koblenz, †2020 Authon

Seit dem 14.Jh. hat sich Frankreich den Ruf einer kulinarischen Führungsmacht erworben. Das zeigt sich nicht nur daran, dass nach wie vor das Französische die internationale Sprache der Gastronomie und der Kochkunst ist. Erst 2010 erfuhr die cuisine française eine höchst offizielle internationale Anerkennung, indem die UNESCO le repas gastronomique des Français, das gastronomische Mahl der Franzosen, zum Immateriellen Kulturerbe der Menschheit erklärte. Einer, der mit seinen Kollegen schon Jahre zuvor für dieses Ziel geworben hatte, war der im Januar 2018 verstorbene Küchenchef Paul →Bocuse. Der Jahrhundertkoch war für seine Verdienste um den guten Ruf der französischen Küche bereits selbst mit zahlreichen Auszeichnungen geehrt worden, und 53 Jahre lang wurde sein Restaurant in Collonges-au-Mont-d’Or bei Lyon ohne Unterbrechung von drei →Michelin-Sternen gekrönt.

Am 25. Februar 1975 wurde ihm mit der Ernennung zum Chevalier de la Légion d’Honneur eine der höchsten Ehrungen zuteil, die der französische Staat an Zivilbürger vergibt. Damit war Bocuse nach →Escoffier erst der zweite Koch in dieser honorigen Gesellschaft. Die Verleihung des Ordens der Ehrenlegion wird vom jeweiligen président de la république vorgenommen. Und der hieß damals Valéry Giscard d’Estaing. Gerade ein knappes Jahr zuvor war er als damals jüngster Kandidat gewählt worden und bekleidete das Amt bis 1981.

Emblem der Légion d'Honneur am Panthéon, Paris

Sein Vater war nach dem Ersten Weltkrieg als Finanzfachmann in der Verwaltung des deutschen Rheinlandes beschäftigt, das von Frankreich besetzt war. So wurde Giscard d’Estaing in Koblenz geboren, dem damaligen Verwaltungssitz. An den Standort seines Geburtshauses erinnert heute eine Schrifttafel in den Parkanlagen am Koblenzer Rheinufer. 2006 wurde ihm, nicht zuletzt wegen seines Einsatzes für die Einigung Europas, die Ehrenbürgerschaft verliehen.

Koblenz, Deutsches Eck

Noch im Jahr seiner Geburt zog die Familie nach Paris, wo der 16jährige Valéry das Abitur ablegte. 1944 schloss er sich der Pariser résistance im Kampf gegen die deutschen Besatzer an und war aktiv an der Befreiung der Hauptstadt am Ende dieses Jahres beteiligt. Im April 1945 zog er als Soldat einer Panzereinheit in der Bodenseestadt Konstanz ein. Nach Kriegsende studierte er in Paris an zwei Hochschulen, an denen bis heute die meisten Angehörigen der politischen und administrativen Elite Frankreichs ihr Abschlussexamen ablegen: An der damals noch ganz neuen École Nationale d’Administration (ENA) sowie an der École Polytechnique. Nach ein paar Berufsjahren in der Finanzverwaltung wurde er, ganz in der väterlichen Tradition, für die Heimatregion seiner Familie, das Département Puy-de-Dôme im Massif Central, als Abgeordneter in die Nationalversammlung gewählt.

Erste politische Sporen verdiente er sich als Staatssekretär im Finanzministerium, und 1966 ernannte ihn Staatspräsident Charles de Gaulle zum Chef dieses Ressorts. Nach diversen Zwischenstationen bewarb er sich 1974 selbst um das Präsidentenamt und setzte sich knapp gegen François Mitterand durch. Die ersten Amtsjahre waren von der durch die Ölkrise verursachten wirtschaftlichen Stagnation geprägt.

Da gehörte die Erhebung von Paul Bocuse in den Ritterstand sicher zu den angenehmeren präsidialen Pflichten.

Zumal aus diesem Anlass im Pariser Élysée-Palast ein feines Festbankett ausgerichtet wurde. Hierfür stellten sich ein paar Weggefährten und Freunde von Bocuse höchstpersönlich an den Herd des Elysée. Zum Beispiel steuerten die Brüder Jean und Pierre Troisgros, seit ihrer Kochausbildung mit Bocuse befreundet und ebenfalls mit drei Michelin-Sternen dekoriert, ein escalope de saumon de Loire à l’oseille zum Menu bei, ein Steak vom Loire-Lachs mit Sauerampfersauce. Mit dem Staatspräsidenten verbindet die Frères Troisgros ihre gemeinsame Herkunft aus der Auvergne, einem der kulinarisch verlockendsten Landstriche Frankreichs.

Und Paul Bocuse als Ehrengast ließ es sich nicht nehmen, zu seinem eigenen Festmahl selbst eine Kreation zu präsentieren.

Auf Grundlage von konzentrierter Geflügel-Brühe, consommé double genannt, und einem →matignon aus klein gewürfelten Sellerie, Schalotten, Karotten, Champignons sowie einem bouquet garni setzte er eine Suppe an. Kleine Stückchen von der Hähnchenbrust bildeten die Fleischeinlage. Eine edle Note verlieh er der Suppe mit foie gras (Geflügelstopfleber) und frisch gehobelter truffe noire. schwarzer Trüffel. Ein Schuss Noilly Prat, eine südfranzösische Wermut-Spezialität, brachte alkoholische Aromen mit.

On va casser ...

Bis hierhin stellt das Rezept noch keine besondere kulinarische Rafinesse dar. Aber Bocuse wollte verhindern, dass die feinen Aromen der Trüffel und der anderen Zutaten schon beim Kochen in der Küche verfliegen. Deshalb füllte er die Suppe in feuerfeste Portionstassen, die er mit einem Deckel aus →pâte feuilletée verschloss und eine gute Viertelstunde im Ofen gratinierte, bis die mit Eigelb bepinselte Oberfläche knusprig goldbraun glänzte.

Den Effekt erklärte Bocuse seinem Gastgeber Giscard d’Estaing, als er ihm die Kreation servierte, mit einem Wortspiel: Monsieur le président, on va casser la croûte!

Damit gaukelte Bocuse zunächst etwas Bescheidenheit vor, denn mit dem Ausdruck casser la croûte ist umgangssprachlich ein kleiner Imbiss gemeint, den man beispielsweise in einer Arbeitspause oder quasi im Vorbeigehen zu sich nimmt. Ursprünglich bezog sich die Redensart, meist in der Substantivform casse-croûte gebräuchlich, auf das Zerbrechen eines knusprigen Brotes, um es mit etwas Wurst oder Käse aus der Hand zu verspeisen. 

... la croute !

Und wie Brot, mit dem man sich eine Suppe einbrockt, fallen die Blätterteigstücke beim Aufbrechen in die Suppentasse und saugen sich gierig mit der aromatischen Brühe voll. Wörtlich forderte er den Präsidenten also schlicht auf, die Kruste aufzubrechen. Aber damit spielte er auf den Haupteffekt der Präsentation an. Denn erst in dem Moment, in welchem der Gast mit dem Löffel ein Loch in die knusprige Blätterteigdecke sticht, entströmen der Terrine die darunter gefangenen köstlichen Aromen.

Soupe aux truffes noires VGE

Den etwas sperrigen Namen des als volksnah geltenden Präsidenten kürzten die Presse und der Volksmund gerne mit dem Kürzel VGE ab. Ganz in der Tradition vieler Vorgänger aus feudalen Zeiten benannte Bocuse seine Kreation namentlich als Widmung des Gastgebers: Soupe aux truffes noires VGE.

Auf die Frage des Präsidenten, wie er auf die Idee für die Suppe gekommen sei, gab sich Bocuse erneut bescheiden. Die Komposition der getrüffelten Consommé habe er in einem Bauernhof in der Ardèche kennengelernt, und die Inspiration zu dem aromakonservierenden Blätterteigdeckel komme von seinem Freund Paul Haeberlin, der ihm einmal in seiner Auberge de l’Ill im elsässischen Illhaeusern eine mit Trüffeln gefüllte Blätterteigpastete vorgesetzt hatte. Und er selbst habe lediglich die beiden Rezepte kombiniert.

Soupe Élysée

Palais de l'Élysée, Paris

Bis heute steht die Suppe mit dem präsidialen Kürzel auf der festen Karte des Restaurants in Collonges, das Bocuse bis zu seinem Tod führte. Verewigt hat er das Rezept selbstverständlich auch in seiner umfangreichen Kochliteratur, sodass es inzwischen zum klassischen Repertoire der nouvelle cuisine zählt. Hin und wieder wird die Suppe auch als Rindfleisch-Variante zubereitet. Da sie erstmals bei dem Bankett im Amtssitz des Staatspräsidenten serviert wurde, kommt sie gelegentlich als soupe Élysée auf den Tisch.

köstliche Heißluft

Nicht nur aus Bescheidenheit hat Bocuse die Erfindung der Suppe mit Teigdeckel nicht für sich beansprucht. Auch sein Freund Haeberlin war nicht der Erste, der diesen Aromaschutz anwandte.

Seit jeher – jedenfalls schon lange vor Haeberlin und anderen – gratiniert man nicht nur Aufläufe, sondern auch mehr oder weniger dicke Suppen aller Art mit einer Teigauflage. Besonders natürlich dann, wenn es um die Bewahrung köstlicher, aber leicht flüchtiger Aromen geht!

Meistens werden solche Zubereitungen auf der französischen Speisekarte mit

… en croûte (feuilletée) oder

… soufflée

gekennzeichnet.

Da sich der Teigdeckel im Idealfall aufbläht wie ein Heißluftballon, findet man gelegentlich auch die Bezeichnung

Soupe (en) montgolfière.

klassische Präsentation

Für die Präsentation seiner Suppe verwendete Bocuse die klassischen bols à soupe tête de lion, die weiß glasierten Porzellan-Suppentassen mit den zwei Löwenköpfen als Griffen, wie sie bis heute in der französischen Gastronomie, aber auch am heimischen Esstisch serviert werden. Aber der Meister ließ sich die Bols mit dem Namen der Suppe, dem Ort und Jahr der Uraufführung, seinem eigenen Namen und mit den Farben der tricolore française verzieren.

Auf dem Bild ganz oben kann man erkennen, dass Bocuse auf seine Suppe wohl mindestens so stolz war wie auf den Orden der Ehrenlegion.

Im gut sortierten Fachhandel kann man die Spezialausgabe der Bol sogar käuflich erwerben. Eine Garantie für das Gelingen der Suppe ist allerdings im stolzen Preis  nicht inbegriffen …!