Die Hauptstadt der französischen Region Centre-Val-de-Loire trägt stolz den Titel Ville d’art et d’histoire.
Kunst und Geschichte begegnen dem Besucher tatsächlich an jeder Ecke. Und auch die Kunst der Speisenzubereitung kommt nicht zu kurz.
Der mit 1006km längste Fluss Frankreichs durchquert Orléans von Ost nach West. Mit ihren weitgehend naturbelassenen Ufern stellt die Loire seit jeher ein reiches Angebot an Süßwasserfischen bereit, von A wie Aal bis Z wie Zander. Aus unterschiedlichen Zusammenstellungen solcher Fische wird die Orléanaise zubereitet, eine →Velouté mit Weißwein und Champignons, die mit Cayennepfeffer gewürzt und mit Krebsschwänzchen serviert wird.
Aufgrund der Bedeutung von Orléans als größte Stadt am Mittellauf der Loire und wegen der geographischen Nähe zu den großen Küchen von Paris hat sich die Bezeichnung à l’orléanaise für verschiedene Flussfischgerichte eingebürgert, bei denen fast immer Weißwein mit im Spiel ist. In den Tälern der Loire und ihrer Nebenflüsse werden vor allem weiße Rebsorten angebaut, aus denen hervorragende Weine entstehen.
Im fruchtbaren Tal der Loire gedeihen Gemüse und Früchte aller Art prächtig. So auch Quitten, französisch coings. Da diese Früchte roh nicht genießbar sind, wird aus ihnen gerne Gelee als Brotaufstrich gekocht. Wenn man dieses Gelee weiter eindickt und abkühlen lässt, wird daraus eine schnittfeste, zuckersüße Masse. Bei uns ist sie als Quittenkonfekt bekannt, etwas veraltet ist die Bezeichnung Quittenbrot. Es wird meist in mundgerechte Würfelchen oder Rauten geschnitten, die man, damit sie in der Aufbewahrungsdose nicht zusammenkleben, in Zucker wälzt.
In Orléans wurde seit dem Mittelalter das noch heiße und dickflüssige Gelee in leere Muschelschalen oder später in kleine Porzellanförmchen gefüllt, aus denen man es nach dem Erkalten genüsslich herausschleckte. Dieses Naschwerk wurde schon am Hof von Louis XIV geschätzt, der es gelegentlich als kleines Geschenk für Staatsgäste oder auch als nette Aufmerksamkeit für seine Mätressen einsetzte.
Auf dem monumentalen Gemälde Hochzeit in Kanaa, mit dem die biblische Szene in die Spätrenaissance übertragen wird, hat der italienische Maler Paolo Veronese schon 1563 das als
Cotignac d’Orléans
bekannt gewordene Naschwerk für Jesus, seine Jünger und die anderen Hochzeitsgäste auf den Tisch gemalt.
Hoffentlich war der Wein, den Jesus auf wundersame Weise vermehrte, süß genug, um da mithalten zu können …!
Aus der griechischen Bezeichnung der Quitte als melimelon (wörtl. Honigapfel, auch die Melone hat hier ihren Namen her) entstand über lateinisch melimelum und portugiesisch marmelo der heute noch gebräuchliche Begriff marmalade in all seinen sprachlichen Varianten (→Dundee).
Im ewigen Streit, um welche Frucht es sich beim Sündenapfel von Adam und Eva denn nun gehandelt hat, vermuten manche die Quitte. Immerhin gibt es im Nahen Osten Quitten-Sorten, die man als Obst roh genießen kann.
Zu dem Begriff cotignac gibt es zwei Erklärungen. Der einen zufolge habe ein Apotheker aus dem südfranzösischen Ort Cotignac diese Form der Quittenverarbeitung nach antikem Vorbild mit Honig und Kräutern praktiziert und nach Orléans mitgebracht.
Die zweite Version leitet den Namen vom lateinischen Wort cidoneum (oder cotoneum) für Quitte ab, das im altfranzösischen zu coudignac geworden war und im aktuellen Französisch zu coing. Auch der erste Teil des botanischen Namens Cydonia oblonga passt in den sprachlichen Zusammenhang. Und in Italien wird Quittenkonfekt cotognata genannt.
Wie auch immer: Heute wird das Konfekt meist in kleine runde Spanschächtelchen, friponnes genannt, verpackt, deren Etikett manchmal die berühmte Kathedrale von Orléans ziert. Öfter jedoch zeigt es hoch zu Pferd Jeanne d’Arc, die als Jungfrau von Orléans in besonderer Weise mit der Geschichte der Stadt verbunden ist.
Eine friponne ist im Französischen ein kesses Mädchen, was ja durchaus im Fall der jungen Johanna als Ehrentitel verstanden werden kann.
Im späten Mittelalter galt Orléans als Essighauptstadt Frankreichs. Noch im 18. Jh. gab es hier über 300 Essigproduzenten. Der
Vinaigre d’Orléans
reifte in 240l-Fässern, die zu zwei Dritteln mit einem Gemisch aus Wein und Essig gefüllt waren. In den unverschlossenen Fässern bildete sich durch aus der Luft kommende Essigsäurebakterien eine natürlich gewachsene, gallertartige Essigmutter. Die Bakterien wandeln den Alkohol in Essigsäure um. In regelmäßigen Abständen wird der an der Oberfläche befindliche Essig abgezogen und durch frischen Wein (meist von der Loire) ersetzt, sodass ein ununterbrochener Kreislauf entsteht. Die Essigmutter bleibt bei diesem Produktionsverfahren über lange Zeiträume erhalten.
Unter Essig-Fachleuten wird diese Herstellungsmethode, bei der sich in offenen Behältern mit Wein (oder anderen alkoholischen Flüssigkeiten) natürliche Essigbakterien ansiedeln und den Alkohol zu Essigsäure umwandeln, allgemein als Méthode d’Orléans bzw. Orléans-Verfahren bezeichnet.
Die Kehrseite der Medaille: In Frankreich qualifiziert man noch heute einen ungenießbar sauren Wein augenzwinkernd als
vin d’Orléans.
Um den kulinarischen Ruf der Stadt weiter aufzuwerten, erfanden einige pâtissiers 2006 mit den
Macarons aux fruits d’Orléans
eine eigene Variante des französischen Mandelgebäcks (→Amiens). Man bekommt die Makronen in vier Geschmackskompositionen: Erdbeeren mit Orléans-Essig (s.o.), Sahne-Haselnuss, Rosenblüte mit Zimt und Limette sowie Birne-Ingwer.