Wenn Honoré de Balzac, Schriftsteller und ausgewiesener Feinschmecker, in den 1830er Jahren seine Freundin und Muse Zulma Carraud in Issoudun im Herzen Frankreichs (Région Centre-Val de Loire, Département Indre) besuchte, genoss er regelmäßig im Gasthaus der Mère Cognet zum Kaffee eine Portion Massepain d’Issoudun.
Zu gleichen Teilen werden fein gemahlene Mandeln, Puderzucker und steifgeschlagenes Eiweiß vermengt, mit Orangenblütenessenz aromatisiert und in kleinen, mit Backpapier ausgelegten Förmchen (moules oder ramequins) oder im Metallring gebacken. Zum Schluss wird das zarte souffléeartige Gebilde aus den Förmchen genommen und mit schneeweißer Zuckerglasur (glace royale) überzogen, was ihm auch den Beinamen reine blanche, weiße Königin verliehen hat.
Manchmal wird das Massepain auch als größeres Rechteck zubereitet und dann in Portionsschnitten aufgeteilt. Als Dekoration passen zum Orangenblütenöl sehr gut Orangenfilets.
Häufig wird übrigens, wohl wegen der sprachlichen Ähnlichkeit, massepain einfach als →Marzipan ins Deutsche übersetzt. Dass dies nicht ganz korrekt ist, zeigt die Verwendung von Eiweiß in obigem Rezept. Marzipanrohmasse rein aus Mandeln und Zucker entspricht im Französischen pâte d’amandes.
Für die in der pâtisserie häufig verwendete Orangenblütenessenz werden die duftenden ätherischen Öle der Blüten des Citrus aurantium, der Bitter- oder →Sevilla-Orange (frz. bigaradier), durch Dampf extrahiert.
Balzac hat nicht ohne Grund, neben Paris, das Städtchen Issoudun und das Château de Frapesle, in welchem seine Muse Zulma wohnte, zum Schauplatz seines satirischen Sittenromans La Rabouilleuse auserkoren. Hier, in der französischen Provinz, fand er die passende Mischung aus Genussfreude und einer in Tristesse erstarrten Kleinbürgerlichkeit.
Das frühere Restaurant der Mère Cognet heißt heute La Cognette und gehört zum Gastronomie-Imperium des französischen 6-Sterne-Kochs Alain Ducasse (jeweils drei →Michelin-Sterne in zwei Restaurants).
Das Massepain ist dort natürlich, serviert mit Orangenfilets und crème anglaise, immer noch fester Bestandteil der Dessertkarte.
Und wird durchaus dem Urteil gerecht, das Balzac schon vor 190 Jahren gefällt hat:
…une des plus grandes créations de la confiturerie française …!
(… eine der größten Kreationen der französischen Zuckerbäckerkunst ..!)
Im Hospice Saint-Roch ist ein sehenswertes Museum zu Geschichte und Kultur von Issoudun untergebracht. Und die Stadt sowie deren Umland haben historisch einiges zu bieten. Balzac formulierte das mal so:
N’en déplaise à Paris, Issoudun est une des plus vieilles villes de France.
(Nichts für ungut, Paris, aber Issoudun ist eine der ältesten Städte Frankreichs)
Und, in La Rabouilleuse:
On ne dîne pas aussi luxueusement en province qu’à Paris, mais on y dîne mieux; les plats y sont médités, étudiés …
(Man speist in der Provinz nicht so luxuriös wie in Paris, aber man speist besser; die Gerichte sind hier wohlüberlegt, ausgeklügelt …)