Ulis Culinaria

Madeleine Paulmier

Mitte 18.Jh.

Stanislas Leszczynski, anfangs des 18.Jhs. König von Polen und seit 1737 Duc de Lorraine et de Bar, hat das Bild der kleinen lothringischen Stadt Commercy mit Schloß und prächtigen Gärten bis heute geprägt.

Auch die Küche im Château de Commercy ist mit einem kleinen, aber feinen Gebäck bis heute in Erinnerung geblieben.

Der Graf war Vater von Marie →Leszczynska und somit immerhin Schwiegervater des Königs Louis XV. Und als solcher hatte er immer mal wieder hochrangige Gäste zum diner in sein Schloss geladen. 

Château de Commercy

Geburtsort eines Nationalgebäcks

Foto: Ketounette
Stanislas Leszczynski

Während eines Gastmahls im Jahr 1755 wurde ihm unvermittelt zugeflüstert, sein Leibkoch habe gerade nach einem Streit mit dem Haushofmeister wutentbrannt das Weite gesucht und – das Schlimmste! – auch noch das vorbereitete Dessert mitgenommen. Es drohte also die große Blamage, den Gästen keinen Nachtisch bieten zu können. Aber der Graf hatte Glück im Unglück.

Madeleine, Retterin in höchster Not!

Die junge Madeleine Paulmier, eine seiner Hausdienerinnen, wollte ihrem Arbeitgeber aus der Klemme helfen und erinnerte sich an die kleinen Küchlein, die ihre bretonische Großmutter immer in leeren Schalen von Jakobsmuscheln gebacken hatte. Flugs machte sie sich ans Werk und rührte eine feine Sandmasse aus Mehl, Butter, Milch, Hefe, Zucker und Eiern an, die sie mit etwas Zitronenschale aromatisierte. Ob sie den Teig tatsächlich in Muschelschalen gebacken hat oder ob sie die Teilchen mit den Händen geformt hat, ist nicht überliefert. Aber gut vorstellbar ist das schon, denn coquilles Saint-Jacques und anderes feines Meeresgetier gehörten zum üblichen Angebot herrschaftlicher Küchen. Und so weit entfernt von der Meeresküste, im lothringischen Binnenland, hob man die hübschen Muschelschalen gerne auf.

Les Madeleines de Commercy

Die Gäste jedenfalls sollen ob des Geschmacks und der originellen Muschelform des Dessert-Gebäcks hellauf begeistert gewesen sein. Der stolze Graf fragte, wer das denn vollbracht habe und ließ Madeleine im Speisesaal antreten. Nachdem er sich nach ihrem Namen erkundigt hatte, machte er sie zur Taufpatin für die rettende Süßigkeit. Die

Madeleines de Commercy

waren geboren.

Wie für unzählige andere Geschichten über die Entstehung kulinarischer Spezialitäten gibt es auch für diese Legende keine gesicherten historischen Belege.

Andere Quellen sehen wegen der Muschelform den Ursprung des Gebäcks direkt in der Bretagne, ohne Umweg über Commercy. Manche siedeln die Entstehung schon im 17.Jh. an. Damals sei ein Cardinal de Retz, nachdem er sich mit dem Sonnenkönig Louis XIV überworfen hatte, nach Commercy ausgewandert und seine Köchin, ebenfalls auf den Namen Madeleine getauft, habe die Muschel-Küchlein erfunden.

... fromme Legenden ...

Eine weitere Legende besagt, derartige Gebäckteilchen seien den Pilgern auf dem Weg nach Santiago de Compostella von einer jungen Frau namens Madeleine angeboten worden. Für diese Theorie spräche, dass die madeleines auch in Nordspanien verbreitet sind und die Muschel-Förmchen an das Erkennungszeichen des Jakobsweges erinnern (→Jakobus). Wegen dieses frommen Zusammenhangs wird das Gebäck gelegentlich der Jesus-Jüngerin Maria Magdalena zugeschrieben, die von französischen Christen Marie-Madeleine genannt wird. Diese Herkunfts-Legende erscheint aber nicht nur zeitlich ziemlich weit hergeholt.

Alexandre →Dumas erzählt in seinem Grand Dictionnaire de la Cuisine – ganz der Erfinder abenteuerlicher Geschichten – von einem ausgehungerten Wanderer, der spät abends, vom schwachen Schein eines Feuers angelockt, bei dem Haus eines mürrischen, angsteinflößenden Mannes um Einlass und um eine Mahlzeit bittet. Der Alte – wie sich schnell herausstellt, ein Bäcker – setzt ihm ein Körbchen seltsam geformter Küchlein vor, die er madeleines nennt. Und nach dem ersten zaghaften Bissen verschlingt der Wandersmann ein Madeleine nach dem anderen, bis das Körbchen leer ist. Und aus dem übellaunigen Bäcker wird ein überaus freundlicher Gastgeber, der für den Gast, der seine Madeleines derart zu schätzen wusste, seine beste Flasche vin de Bordeaux öffnet. Sogar sein eigenes Bett überlässt er dem müden, aber wohlgesättigten Fremden. 

Nationalgebäck

Das Rezept, das Dumas dann präsentiert, schreibt er einer pensionnaire und ancienne cuisinière namens Madeleine Paumier zu, die in Diensten der alten Adelsfamilie Perrotin de Barmond gestanden habe.

Die Madeleines gehören inzwischen zum festen Repertoire französischer Feinbäckerei und haben fast den Status eines kulinarischen Nationalgutes erreicht. Längst werden Madeleines nicht mehr nur in privaten und handwerklichen Backstuben, sondern auch in industriell arbeitenden Großbäckereien als Supermarkt-Ware gebacken (was in diesem Fall nicht unbedingt mindere Qualität bedeutet!). Und echte Jakobsmuscheln verwendet auch niemand mehr, sondern es wurden spezielle Backformen entwickelt. Solche moules à madeleines bekommt man in Frankreich in jedem Haushaltswarengeschäft. Meist sind in einer rechteckigen Form aus antihaftbeschichtetem Blech oder, ganz modern, flexiblem Silikon mehrere entsprechende Vertiefungen mit den muscheltypischen Rillen eingestanzt.

Reisende, die auf der 1851 eröffneten Eisenbahnlinie zwischen Strasbourg und Paris den Bahnhof von Commercy erreichten, erwartete ein beliebtes Spektakel. Mit lautem Marktgeschrei versuchten Frauen mit Körben voller madeleines aus den verschiedenen pâtisseries, während der kurzen Zugstopps möglichst viele davon an die Fahrgäste zu vekaufen.

Reiseproviant

Bahnhof von Commercy, Anfang 20.Jh.

Sprachschatz

Der Schriftsteller Marcel Proust hat dem Gebäck im 1913 erschienenen ersten Band seines Romans À la recherche du temps perdu (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit) ein literarisches Denkmal gesetzt: Dort weckt ein Stückchen Madeleine, in einem Löffel Tee aufgelöst, bei dem Ich-Erzähler urplötzlich emotionsgeladene Erinnerungen an seine Kindheit. Im Französischen hat sich entsprechend der Ausdruck madeleine de Proust als Metapher für ein Erlebnis eingebürgert, bei dem ein eigentlich belangloses Ereignis, ähnlich wie ein déja-vu, heftige Gefühle auslöst.

Madeleine de Proust

Will man sich mit einer/einem guten Bekannten zum gemütlichen Plausch in einem Café treffen, lautet die Verabredung →umgangssprachlich oft:

Lass uns mal ’nen Kaffee trinken gehn!

In Frankreich trifft man sich zum tremper une madeleine. Denn nicht nur Proust liebte es, das Gebäck vor dem genüsslichen Hineinbeißen in ein heißes Getränk wie Kaffee, Tee oder Schokolade zu tunken, auf Französisch tremper.

Délicieux!