Ulis Culinaria

Wilbur Lincoln Scoville

*1865 Bridgeport (Connecticut), †1942 Gainsville (Florida)

Die gustatorische Wahrnehmung wird klassisch eingeteilt in die Geschmacksrichtungen süß, sauer, salzig, bitter und umami. Die Schärfe, seit jeher eine wichtige Komponente bei der Zubereitung von Lebensmitteln, hat man hier nicht etwa vergessen. sondern scharfer Geschmack ist eigentlich gar kein Geschmack. Pflanzen, die wir als scharf empfinden, enthalten spezifische Inhaltsstoffe, die nicht auf die Geschmacksknospen, die Caliculi gustatorii bzw. auf die Geschmachspapillen, die Papillae gustatoriae einwirken, sondern auf die für Hitze und Kälte zuständigen Schmerzrezeptoren in Mund, Rachenraum und Nase.

echt scharf!

scharf auf scharf

Etliche Pflanzen haben im Laufe der Evolution solche scharfmachenden Substanzen zur Abwehr von Fressfeinden entwickelt. Aber der Fressfeind Mensch hat längst gelernt, den Reiz dieses Schmerzreizes für sich zu nutzen, und zwar schon lange, bevor Biochemiker und Mediziner Geschmacks- und Schmerzwahrnehmung wissenschaftlich unterscheiden konnten. Die meisten der scharfen Inhaltsstoffe empfinden wir über die Hitzerezeptoren als heiß. Die übliche Bezeichnung einer Speise als feurig oder brennend scharf hat also die gleiche Berechtigung wie die englischsprachige Etikettierung einer Chili-Sauce als hot. Und das gilt selbst dann, wenn wir das Hot Ketchup gerade erst aus dem Kühlschrank genommen haben. 

Umgekehrt sprechen manche scharfen Stoffe, ohne tatsächlich kalt zu sein, unsere Kälterezeptoren an. Beispielsweise empfinden wir ein Pfefferminzbonbon mit Zimmertemperatur wegen des in Minzeblättern enthaltenen Menthols als kühl. Selbst ein Schluck heißer Pfefferminztee bewirkt diesen Effekt, was ihn in manchen heißen Regionen zum beliebten Erfrischungsgetränk werden ließ.

Pfefferminze

Den Scharfmacher des Knoblauchs fanden die Wissenschaftler im Allicin. Bei der Zwiebel ist es das Isoalliin, eine flüchtige Substanz, die einen zum Weinen bringen kann. Die in Senf und Meerrettich enthaltenen Glykoside steigen gerne in die Nasenhöhlen auf und lassen ebenfalls die Tränen des Genießers kullern. Der Echte Pfeffer, Piper nigrum, enthält das Alkaloid Piperin. Dem vielseitig gesundheitsfördernden Ingwer gibt Gingerol seine fruchtige Schärfe.

Ingwer
Echter Pfeffer
Diese scharfen Lebens- und Würzmittel kannte man in Europa schon lange, bevor ein gewisser Cristoforo Colombo aus Genova 1492 vermeintlich Indien auf der Westroute erreichte. Die dort beheimateten Menschen, nach Kolumbus‘ Irrtum Indianer bzw. Indios genannt, kultivierten für ihre Küche seit Urzeiten die scharfen, schotenartigen Früchte von Pflanzen, die sie, wie auch die mit ihnen zubereiteten Gerichte, chilli nannten. Kolumbus brachte ein paar der fremdartigen Gewächse nach Europa mit. Und da die Menschen in Mittelamerika sie offensichtlich auch als Heilmittel verwendeten, landeten sie hier zunächst im Labor von Apothekern. Wegen der leuchtend roten, orangefarbenen oder gelben Früchte pflanzte man sie auch gerne als Gartenzierde an. Erst langsam erkannte man die Verwendbarkeit von Chili und Paprika zur Nahrungszubereitung.

Die Bezeichnung Paprika übernahm man wegen der gemeinsamen Schärfe vom Pfeffer. Aus dem lateinischen Wort piper entstand in osteuropäischen Sprachen papar und daraus dann, neben deutsch Pfeffer, auch die anderen heute gebräuchlichen Namen wie Peperoni und Peperoncini. In älterer deutscher Küchenliteratur findet man noch Pfefferschoten und Pfefferonen. Auch Spanischer Pfeffer und Cayennepfeffer haben mit dem Echten Pfeffer nur die Schärfe gemein.

Sie alle gehören zur Gattung Capsicum, die wiederum zur Familie der Solanaceae, den Nachtschattengewächsen zählt. Den Namen Capsicum haben Botaniker nach dem lateinischen Wort capsa gewählt, da die Samen dieser Pflanzen in den Schoten – botanisch handelt es sich um Beeren – wie in einer Kapsel oder einer Schachtel verborgen sind. In der Küche sind drei Arten aus der Gattung Capsicum interessant. 

Die meisten Sorten wie der milde Gemüsepaprika und die mäßig scharfen Peperoni gehören zur Art Capsicum annuum. Die kleineren, aber wirklich scharfen Schoten, die als Chilis zusammengefasst werden, findet man eher unter C. frutescens oder C. chinense. In allen drei Arten sind im Laufe der Zeit und weltweit so viele Zuchtformen entstanden, dass selbst Botaniker manchmal den Überblick verlieren.

Wie scharf ist scharf ist scharf ist scharf ist scharf ist scharf ist scharf ist scharf ?

Entsprechend dem Gattungsnamen Capsicum hat man die scharfmachenden Substanzen Capsaicinoide genannt. Darunter ist das Capsaicin der schärfste Stoff. Und da Wissenschaftler nun mal an der umfassenden Vermessung unserer Welt interessiert sind, stellte sich Anfang des 20.Jhs. der Amerikaner Wilbur Scoville, seinerzeit bei einem Pharmakologie-Unternehmen beschäftigt, die Aufgabe, den Capsaicin-Gehalt von Capsicum-Früchten in Zahlen zu fassen. 1912 veröffentlichte er schließlich eine erste Scoville-Scala als Ergebnis aus seinem Scoville Organoleptic Test (organoleptisch = mit den Sinnen erfassbar.)

Scoville-Scala

Für dieses Verfahren extrahierte er aus verschiedenen Früchten die Flüssigkeit und verdünnte sie solange mit Wasser, bis eine Gruppe von Probanden keine Schärfe mehr feststellen konnte. Die Obergrenze der Messskala ermittelte Scoville, indem er Capsaicin als reine Substanz isolierte. Und er stellte fest, dass er es im Verhältnis 1 : 16 Mio. mit Wasser verdünnen musste, damit seine Testpersonen keine Schärfe mehr empfanden. Die so gefundene Maßeinheit taufte er Scoville-Grad, englisch Scoville Unit (SCU) bzw. Scoville-Hitze-Einheit / Scoville Heat Unit (SHU). 1ml reines Capsaicin auf 16.000l Wasser ergibt also den Höchstwert von 16.000.000 SHU.

Scoville-Heat-Unit (SCU)

Das sensorische Schärfeempfinden des Menschen ist allerdings von verschiedensten subjektiven Faktoren beeinflussbar. So werden in vielen asiatischen oder mittelamerikanischen Regionen schon kleine Kinder an scharfe Speisen gewöhnt, die für die meisten Europäer als ungenießbar gelten würden. Auch ist die Anzahl der Rezeptoren im Mund- und Rachenraum nicht bei allen Menschen gleich, und selbst psychische Befindlichkeiten können sich auswirken. Deshalb hat man die von Scoville entwickelte Methode mit Versuchspersonen inzwischen durch das objektivere technische Verfahren der Chromatografie ersetzt.

Scoville-Grad

Aber auch die Pflanzen einer Capsicum-Sorte weisen nicht automatisch die gleiche Feurigkeit auf. Meteorologische und geologische Bedingungen spielen ebenso eine wichtige Rolle für den Gehalt an Capsaicinoiden wie der Erntezeitpunkt und die Weiterverarbeitung der Schoten. Selbst bei Früchten von einer einzigen Pflanze kann man deutlich unterschiedliche Werte messen. Die zahlreich in der Literatur und im Internet veröffentlichten Listen mit SHU-Werten bestimmter Chili-Sorten, genauso natürlich auch die in meinen Lexika enthaltenen Angaben, können immer nur Annäherungswerte sein. Bei der Verwendung in der Küche hilft nur eins: Probieren!

Bei den meisten Chili-Sorten gilt, dass die weißlichen Scheidewände mehr Schärfe enthalten als das Fruchtfleisch, aus dem die Schoten bestehen. Und da die Samenkerne, die selbst kein Capsaicin tragen, an diesen Scheidewänden sitzen, nehmen sie auf ihrer Oberfläche reichlich Hitze mit.

Die roten, gelben oder grünen Früchte des Gemüsepaprikas beginnen mit 0 bis 10 SHU, also 1ml ihres Saftes wird schon mit 10ml Wasser oder sogar ohne Verdünnung nicht mehr als scharf empfunden. Die sog. Peperoni, die man von der Pizza oder aus einem mediterranen Salat kennt, bringen bis etwa 1.000 SHU auf den Teller. Nimmt man den aus Sorten von C. annuum hergestellten →Cayennepfeffer zur Hand, würzt man schon mit annähernd 50.000 Grad. Mit bis zu 400.000 SHU befindet sich der →habanero unter allen kulinarisch noch interessanten Chilisorten in der absoluten Spitzengruppe. Eine Weiterzüchtung des Habanero, die Red Savina, erreicht gar Werte von mehr als 570.000 SHU. Als Rekordhalter galt lange die Carolina-Reaper mit knapp 1,6 Mio. Grad. Anfang 2017 wurde die Züchtung des walisischen Gärtners Mike Smith bekannt, der für einen Wettbewerb um die schönste Chilischote die wirklich hübsche, aber mit 2,48 Mio. SHU an Schärfe alles bisherige übertreffende Dragon’s Breath präsentierte.

Solche Extreme sind natürlich kulinarisch nicht mehr von Wert, aber es gibt immerhin Versuche, sie für Wärmepflaster oder andere medizinische Zwecke zu nutzen.

In der Fachwelt wird der Rekord des Drachen-Atems als Internet-Gag angezweifelt. Trotzdem wird versucht, auch diesen Wert noch zu toppen. Aber hier ist der Rekord längst zum Selbstzweck geworden – und in Hot-Chili-Currywurst-Wettbewerben und sonstigen Nonsens-Veranstaltungen zur bisweilen gesundheitsgefährdenden Mutprobe mutiert …

Das Feuer auf Zunge und Gaumen lässt sich jedoch nicht mit Wasser löschen, da es das Capsaicin lediglich im Mund- und Rachenraum verteilt und dadurch die gefühlte Hitze eher noch steigert. Hilfreich ist alleine Fett, wie es z.B. in Milch oder Joghurt enthalten ist, oder ein alkoholisches Getränk. Capsaicin ist fett- und alkohollöslich und wird nur so verdünnt und ausgespült.

Natürlich gilt auch bei Chili&Co. die gute alte Regel, dass sich über Geschmack schlecht streiten lässt. Wer allerdings die Schärfe auf die Spitze treibt, um irgendeinen irrwitzigen Wettbewerb zu gewinnen, setzt womöglich seine Gesundheit aufs Spiel. Denn die Reaktionen des Körpers auf Schmerzreize sind kaum steuerbar.

Das wiederum wirkt positiv wie ein Geschmacksverstärker, denn die Schärfe regt auch die Geschmacksrezeptoren zu erhöhter Aufmerksamkeit an. Dieser Effekt geht freilich verloren, wenn man vor lauter Feuer eh keine Aromen mehr wahrnehmen kann. 

Ebenfalls angeregt wird die Tätigkeit der Schweißdrüsen. Die damit einhergehende Senkung der Körpertemperatur könnte unterbewusst dazu beigetragen haben, dass sich die Scharfmacher besonders in wärmeren Klimaregionen großer Beliebtheit erfreuen. Ein anderer Grund hierfür könnte sein, dass Capsaicin und andere scharfe Alkaloide antibakteriell wirken und deshalb zur Haltbarkeit von Lebensmitteln beitragen können, was zumindest vor der Erfindung von Gefrier- und Kühlschrank ein willkommener Nebennutzen war.

Und nicht zuletzt schwören manche Genießer darauf, dass die erhöhte Durchblutung sowie eine gewisse Lust am Schmerz auch die Libido beflügeln könnten, weshalb Chili und Peperoncini gelegentlich in Abhandlungen über Aphrodisiaka Erwähnung finden (→Aphrodite).