* 316/317 Savaria, †397 Candes
Das sogenannte Kirchenjahr, also die immer wiederkehrende Abfolge der christlichen Fest- und Gedenktage, lässt sich – zumindest im christlichen Abendland – auch kulinarisch nachvollziehen.
→Lebkuchen, →Pfefferbrot oder →Stollen gehören in die Vorweihnachtszeit, weil die frühen Kirchen-Oberen die Wartezeit auf den adventus domini, auf die Ankunft des Herrn, zur Fastenzeit erklärt hatten. Da bot solch reichhaltiges Gebäck guten Ersatz für das verbotene Fleisch. Die Geburt des →Heilands darf dann mit einem guten Braten, z.B. einer fetten Weihnachtsgans, gefeiert werden.
Die dann folgende Leidenszeit des Jesus von Nazareth wird erneut mit einem Fastengebot belegt, da hilft beispielsweise Schmalzgebackenes wie Fastnachtsküchlein, auch →Kreppel oder →Berliner genannt.
Die Auferstehung des am Karfreitag hingerichteten Gottessohnes wird an Ostern in den meisten christlich geprägten Ländern mit dem üppigsten Festmahl des Jahres gefeiert. Vielerorts kommt das sinnbildliche Unschuldslamm in Form einer gut gebratenen Lammkeule oder als süßes Gebäck in entsprechender Gebildeform auf den Tisch.
Die vorweihnachtliche Fastenzeit endet nicht nur mit dem traditionellen Gänsebraten, denn bereits am Tag vor der fleischlosen Zeit, dem 11. November, kommt die Martinsgans in den Ofen. Sowohl der Termin als auch die Benennung des Bratens gehen auf den Heiligen Martinus zurück, der von 370/71 bis zu seinem Tod das Amt des Bischofs von →Tours inne hatte.
Die Zubereitung ist von Region zu Region unterschiedlich. Maßgeblich ist allein das besondere Verhältnis zwischen den wachsamen Vögeln und dem Heiligen aus der Touraine.
Der Lebenslauf des Martin von Tours und die mit ihm verbundenen Legenden sind ein gutes Beispiel für den Übergang von spätantiken Weltvorstellungen zu einem christlich begründeten Weltbild.
Als Martinus geboren wurde, war sein Vater als Offizier der römischen Armee in der Provinz Pannonia stationiert, die etwa dem heutigen westlichen Ungarn entspricht. Die Gesetzgebung des Imperium Romanum sah für Söhne von Offizieren zwingend ebenfalls eine militärische Laufbahn vor. Nicht zufällig war schon die Namenswahl: Martinus ist der dem (Kriegsgott) Mars Geweihte. Der fünfzehnjährige Martinus wurde in Mailand – sein Vater stammte aus dem nahen →Pavia – zum Legionär ausgebildet. Aber schon vorher hatte er in der Schule erste Kontakte zu christlichen Familen geknüpft.
Deren ethische Vorstellungen gefielen ihm so gut, dass er den Soldatenberuf nur widerwillig annahm, um den Ruf seines Vaters nicht zu beschädigen. Trotzdem kam er immerhin auf 25 Dienstjahre. 351 ließ er sich christlich taufen. Den Schlusspunkt seines Soldatendaseins setzte Martin selbst im Jahr 356, als er sich in der Nähe des heutigen Worms weigerte, an einem Militärschlag gegen einfallende Barbaren aus dem alemannischen Norden teilzunehmen. Stattdessen bot er sich, um den Vorwurf der Feigheit zu entkräften, als menschlichen Schutzschild an. Die Germanen brachen ihre Attacke zwar ab, aber Martin wurde – quasi unehrenhaft – aus der Armee entlassen. Dieser Akt der Kriegsdienstverweigerung, motiviert vom christlichen Gebot der Feindesliebe, stand natürlich in krassem Gegensatz zum römisch-imperialen Ehrencodex.
Ebenso die Episode, derentwegen die allermeisten Kinder den Heiligen Martin bereits im Vorschulalter kennenlernen. Sie wird von Historikern in das Jahr 334 datiert. An einem sehr kalten Wintertag soll der Legionär Martinus zu Pferd unterwegs gewesen sein, als er einen nur sehr spärlich bekleideten Bettler antraf. Kurzerhand zerschnitt er mit seinem Schwert die cappa (*), den weiten Umhang des römischen Reitersoldaten, und gab eine der beiden Hälften dem armen Mann. Der ursprünglich nicht nur von Kindern praktizierte Brauch, den barmherzigen Legionär mit einem Laternen-Umzug und einem als Martin verkleideten Reiter alljährlich neu aufleben zu lassen, entstand allerdings erst etliche Jahrhunderte später. Inzwischen hat sich das Rollenspiel weitgehend als konfessionslose, allgemeingültige Darstellung von gesellschaftlicher Solidarität etabliert.
(*) Wie das so ist mit Heiligenreliquien: Mit den Stofffstückchen, die weltweit von der originalen Cappa des Heiligen Martin stammen sollen, könnte man wahrscheinlich eine ganze Legion einkleiden. Aber immerhin haben kleinere Kirchenbauten, in denen solche Reliquien aufbewahrt und verehrt wurden, die von der cappa abgeleitete Bezeichnung Kapelle erhalten. Durch Karl den Großen soll der aber wirklich wirkliche Mantel des Heiligen im Dom von →Aachen einen dauerhaften Platz gefunden haben. Die Kirche war vom Kaiser als Kapelle seiner Kaiserpfalz vorgesehen. Im Französischen wird Aachen seit den Zeiten von Charlemagne Aix-la-Chapelle genannt.
Soziales Verhalten soll Martin jedenfalls auch zur Grundlage seines missionarischen Eifers im damaligen Gallien erhoben haben. So erklärt sich der außergewöhnliche Erfolg bei der bis dahin heidnischen Bevölkerung, deren vielgestaltige germanische Götterwelt allmählich vom monotheistischen Glauben verdrängt wurde. Das führte zur Gründung zahlreicher Kirchengemeinden und Klöster, darunter die älteste noch aktive Abtei Europas in Ligugé, etwa 100km südlich von Tours.
Etwa 370 wird Martin zum Bischof von Tours geweiht
Der 11. November als Datum des Martinstages und der Gans als Festtags-Vogel entspricht dem überlieferten Todestag im Jahr 397.
Aber auch hier vermischen sich kirchliche und weltliche Traditionen. Mitte November, also am Ende der Erntesaison, war seit jeher der traditionelle Termin, zu welchem die Landwirte ihren Lehnsherren die fällige Lehnspflicht zu erfüllen hatten. Vielfach wurde der Zehnt in Naturalien geleistet. In manchen Weinbaugegenden wurde dazu auch der noch ganz junge Wein vom Fass gezogen.
Zum Zehnt gehörten stets auch Gänse, die sich selbst die ärmste Bauernfamilie leisten konnte. Zum November hin waren die Vögel zudem noch von der Sommermast wohlgenährt. Und durch die Verknüpfung des bäuerlichen Kalenders mit dem Todestag des Martin von Tours wurde
aus dem Zehnttag der Martinstag,
aus dem Zehntwein der Martiniwein
und aus der Zehntengans die Martinsgans.
Trotzdem hat das fromme Kirchenvolk Jahrhunderte später die Rolle des Federviehs noch in einer hübschen Legende etwas aufgewertet: Als man beschloss, Martin zum Bischof von Tours zu wählen, soll dieser sich aus Bescheidenheit und Demut vor dem Amt in einem Gänsestall versteckt haben. Die Vögel schnatterten aber so wild, dass das Versteck aufflog und man den guten Mann zur Bischofsweihe zerren konnte. Diese Legende existiert in fast allen europäischen Ländern in leichten Abwandlungen.
Dass Martin von Tours vor allem in Gallien missionarisch unterwegs war, ist bis heute erkennbar. Über 400 Dörfer, Gemeinden und Ortsteile allein in Frankreich tragen den Namen Saint-Martin und werden durch geografische Namenszusätze voneinander unterschieden. Die Zahl der ihm gewidmeten sakralen und profanen Baudenkmäler geht in die Tausende.
Überdies ist Saint-Martin einer der nationalen Schutzheiligen der Franzosen.
Seine Missionsreisen führten Martin auch nach Flandern. Als ihm in der Gegend von →Dunkerque einmal sein Esel davongelaufen war, halfen ihm ein paar Kinder, die in den Dünen spielten. Sie verfolgten und fanden das Grautier anhand der crottes, der fallengelassenen Kotkügelchen. Aus Dankbarkeit verwandelte Martin die Eselsäpfel in gesüßten →Briocheteig.
In den Bäckereien des französisch-belgischen Grenzlandes findet man das kugelige Hefe-Gebäck mal als folards, mal als volaeren, jedenfalls mit dem Zusatz de la Saint-Martin (*). Manchmal noch ergänzt mit …aux raisins secs, mit Rosinen. Und die Kinder dürfen die Leckerei nach einem langen, kalten Laternenumzug am Martinstag genießen. Auch, wenn sie zuvor keinen entlaufenen Esel eingefangen haben.
(*) vgl. das portugiesische Gebäck →folar!
Die weibliche Bezeichnung de la Saint-Martin ist die Kurzform von de la fête de Saint-Martin.