Ulis Culinaria

Pauline Lucca

*1841 Wien, †1908 Wien

Obwohl sie heute nur noch Opern-Spezialisten ein Begriff ist, erlangte die Österreicherin schon in jungen Jahren einen guten Ruf als Opernsängerin. Nach der Gesangsausbildung und ersten Engagements an verschiedenen Opernhäusern der k.u.k.-Monarchie wurde sie vom seinerzeit berühmten Komponisten Giacomo Meyerbeer 1861 an die Königliche Hofoper nach Berlin verpflichtet. Sie erhielt ‒ gerade einmal 20 Jahre alt! ‒ ein Engagement auf Lebenszeit, feierte aber auch Erfolge in ihrer Geburtsstadt Wien, in Prag, London und später in den USA. Neben ihrem gewaltigen Tonumfang und ihrem expressiven Gesangsstil feierte das Feuilleton die Lucca besonders wegen ihrer schauspielerischen Kunst und ihrer äußeren Erscheinung.

Lithographie, 1862

Lucca-Augen

Dazu gehörten offensichtlich auch ‒ zumindest für einen Küchenchef des Berliner Hotels Kempinski ‒ die schönen Augen der Operndiva. Denn er präsentierte ihr zu Ehren ein kleines, aber feines Gericht als Lucca-Augen. Der namentlich nicht bekannte Koch zeigte sich dabei als wahrer Künstler, denn er schuf ein regelrechtes kleines Gemälde: Den Augapfel formte er aus Tatar, die Iris stellte er mit einer rohen, schillernden Auster dar, und das tiefe Schwarz der Pupillen mit einem kleinen Klecks Kaviar. Da er das künstlerisch-kulinarische Gebilde auf knusprig geröstetes Weißbrot setzte, kennt man es auch als Lucca-Toast.

Mit dieser Garnitur – ohne Auster, dafür umso mehr Kaviar – werden die Augen der Lucca zum dunklen Geheimnis …

Das Tatar wird ganz klassisch angemacht mit fein gehackter Zwiebel (oder, etwas milder, Schalotte), mit Eigelb und ein paar Spritzern Worcestershiresauce sowie Salz und Pfeffer.

Man kann nun die Auster entweder nach dem Öffnen in der unteren Schale belassen und mit dem Messer nur lösen, oder man entnimmt sie und setzt sie auf das Tatar. Das ist Geschmacksache. Aber wenn man die Auster vorsichtig öffnet, bleibt in der Halbschale noch etwas Meerwasser übrig. Und das gehört für einen Austernliebhaber genauso zum Genuss wie das Schlürfen der Muschel von ihrer Schale.

Die faden quadratischen Toastbrotscheiben aus dem Plastiksack sollte man vermeiden. Aber wenn doch, kann man mit einem Servierring Rondells ausstechen. Nimmt man dagegen schräg aus einer knusprigen Baguette geschnittene, in Butter kurz angebratene und mit dem Tatar bedeckte Scheiben und darauf dann die Austernschalen, ist die Augenform eigentlich schon perfekt. Fehlt nur noch die Pupille aus schwarzem Kaviar. Um das schöne Auge der Lucca zu vervollständigen, lässt sich mit einer dünn geschnittenen und halbierten Zitronenscheibe sogar noch die Augenbraue darstellen. Und geschmacklich passt die Säure allemal zu der Kombination aus maritimer und terrestrischer Rohkost.

Übrigens:

Bei allen drei Komponenten des Snacks handelt es sich um rohe, also äußerst schnell verderbliche Lebensmittel. Das für Tatar verwendete Rindfleisch wird nur noch selten direkt vor der Zubereitung von Hand gehackt, sondern als fertiges Hackfleisch gekauft. Trotz heute üblicher Verpackung unter Schutzgas ist es immer zum sofortigen Gebrauch bestimmt.

Den Luxus des Kaviars sollte man sich nur gönnen, wenn man ihn mit ausreichend vielen Gästen teilen kann, denn ist die Dose oder das Glas erst einmal angebrochen, sollten die empfindlichen Stör-Eier möglichst schnell verspeist werden.

Die Legende mit dem Hotel Kempinski ist, obwohl sie immer wieder zu lesen und zu hören ist, auch nicht wirklich belegt. Aber dass Pauline Lucca während ihrer langen Jahre am Berliner Opernhaus auch hin und wieder im Kempinski zu Gast war, ist doch sehr gut vorstellbar.

Tatar

Und die klassische Anrichteweise für Tatar gehört in solchen Grand-Hotels natürlich zum Standard: Das besonders feine Hack aus dem Filet oder anderem mageren Muskelfleisch vom Rind wird gesalzen und gepfeffert und als mit dem Servierring geformtes Rondell auf den Teller gegeben. Oben wird eine Delle eingedrückt. Dahinein lässt man ein rohes Eigelb gleiten – so sanft, dass es heil bleibt! Separat werden weitere Zutaten auf dem Teller drapiert, die der Gast je nach Gusto selbst mit dem Tatar vermengt: Gehackte Zwiebel/Schalotte, Senf, Sardellenfilets, Cornichon-Würfelchen, Kapern und gehackte Kräuter (Petersilie, Schnittlauch …) sind meistens dabei. Auch das Abschmecken mit Worcestershire-Sauce und vielleicht ein paar Spritzern Chilisauce bleibt dem Gast überlassen. Dazu wird Toast unter einer Serviette warmgehalten.

Tataren

Die Etymologie des Begriffs Tatar (auch als Tartar gebräuchlich) ist ungeklärt. Die übliche Herleitung vom zentralasiatischen Reitervolk der Tataren, die angeblich ihre Fleischvorräte unter dem Sattel transportierten, um sie zart und mürbe werden zu lassen, gehört wohl eher in die Kategorie romantischer Mythen.

Gustave Doré, Tataren, 1860

Gelegentlich findet man Rezepte für süße Brandteig- oder Mürbeteig-Zubereitungen ebenfalls unter der Bezeichnung Lucca-Augen. Meist werden hierbei windbeutelähnliche Bällchen oder aus Teig gespritzte Kringel mit diversen Cremes oder mit knallroter Kirschkonfitüre gefüllt. Nirgendwo ist allerdings ein nachvollziehbarer Zusammenhang mit der österreichischen Operndiva zu erkennen.

süße Augen

Lucca, Toscana

Und in Lucca, dieser sehenswerten Stadt in der Toscana, isst man natürlich auch gerne köstliche Kleinigkeiten aus einer pasticceria