In der Bourgogne, im Herzen Frankreichs, wachsen neben den berühmten Weinlagen auch allerhand andere köstliche Beerenfrüchte. Eine der kleinsten, aber feinsten ist die nach dem biblischen Täufer benannte →Johannisbeere. Die Rote Johannisbeere Ribes rubrum schmeckt nach ihrer Reifezeit im Juni ‒ um den Johannistag herum ‒ direkt vom Strauch und wird ohne weitere Verarbeitung gerne in der Konditorei oder für fruchtige Desserts verwendet. Als Gelee oder →Konfitüre mit Butter auf einem Stück ofenfrischer Baguette passt sie zum petit déjeuner wie der dampfende Milchkaffee.
Ihre dunkle Schwester, die Schwarze Johannisbeere Ribes nigrum dagegen galt wegen ihres etwas strengeren Geschmacks nach ihrer Verbreitung in Mitteleuropa ab dem 16.Jh. zunächst eher als Heilpflanze. Aus den Blättern und Früchten wurden Extrakte zur Bekämpfung von Darmkrankheiten, von Arthrose und allerlei weiteren Beschwerden gewonnen. Die deutsche Nonne →Hildegard von Bingen empfahl schon im 12.Jh., von der Gicht befallene Gelenke mit einer Salbe aus den Blättern der Schwarzen Johannisbeere einzureiben. Der hohe Vitamin-C-Gehalt der Früchte ‒ gut das Dreifache von Orangen! ‒ machte den als Sirup konservierten Saft besonders in der kalten Jahreszeit beliebt.
Wohl aus der pharmazeutischen Methode, pflanzliche Heilkräfte in Alkohol zu konservieren, entstand ein Likör, für den neben den Weinen besonders das Burgund berühmt geworden ist. Immer wieder wurden Weinberge, die qualitativ mit den großen →AOC-Lagen nicht mithalten konnten, für andere landwirtschaftliche Produkte genutzt, und viele davon wurden mit cassissiers bepflanzt, mit Schwarzen Johannisbeersträuchern. Während die roten Beeren in Frankreich groseilles genannt werden, heißen die schwarzen Früchtchen cassis.
Schon seit dem 12./13.Jh. kennt man in ganz Frankreich den mit verschiedensten Beerenfrüchten, Traubenmost und Zucker auf Alkohol angesetzten Ratafia, einen süß-fruchtigen Aperitif-Likör. Wegen ihrer meist dickflüssigen Konsistenz verwendet man im Französischen für Liköre gerne das Wort crème. Aufgrund des überreichen Angebots an Schwarzen Johannisbeeren um Dijon herum ließ man hier die anderen Früchte irgendwann einfach weg, und im 18.Jh. entstand der erste Crème de Cassis de Dijon.
Und weit über Frankreich hinaus ist Crème de Cassis zum Synonym von Johannisbeerlikör geworden, auch wenn er sonstwo auf der Erde angesetzt wurde. Das Prinzip ist simpel: Die Früchte werden mit Zucker und Alkohol angesetzt, im Deutschen spricht man von einem Aufgesetzten. Nach unterschiedlich langer Ruhezeit wird der fertige, dunkel-purpurfarbene Likör filtriert und abgefüllt. Unterschiede ergeben sich aus dem Mischungsverhältnis, aber vor allem aus der Qualität der Früchte. Die burgundischen Johannisbeersorten gelten als besonders aromatisch, deshalb nehmen Kenner die Etikettierungen Crème de Cassis de Bourgogne und Crème de Cassis de Dijon durchaus als Garantie für Spitzenqualität.
Dazu trägt auch der gesetzliche Schutz dieser beiden Herkunftsbezeichnungen bei. Der Cassis-Likör aus der Bourgogne ist seit 2015 durch das EU-Siegel einer indication géographique protégée (→IGP) namentlich geschützt. Das Règlement schreibt mindestens 400g Zucker auf einen Liter und einen Mindestalkoholgehalt von 15 Vol.-% vor, die meisten Produkte weisen zwischen 17 und 20 Vol.-% auf.
Dijon, die Hauptstadt der Bourgogne, hat also ‒ neben dem Wein und der nach ihr benannten Methode der →Senfherstellung ‒ mit dem Johannisbeerlikör ein drittes kulinarisches Aushängeschild von Weltrang. Und dessen guter Ruf ist untrennbar auch mit dem Namen
verbunden.
Der katholische Priester hatte sich bereits vor dem Zweiten Weltkrieg mit wortgewaltigen Predigten und durch seinen Einsatz für gesellschaftliche Belange einen guten Ruf in der breiten Bevölkerung erworben. 1931 wurde er zum chanoine ernannt, zu deutsch Kanonikus oder Domherr. Während der Besatzung durch die Truppen des deutschen Nazi-Regimes unterstützte er aktiv die résistance und entkam nach mehreren Festnahmen durch die Gestapo und bei einem Schusswaffenattentat eines französischen Kollaborateurs nur knapp dem Tod. In Anerkennung seines Engagements wählte ihn der Stadtrat von Dijon 1945 zum ersten Bürgermeister nach der Befreiung, und bis zu seinem Tod wurde ihm dieses Amt immer wieder zuerkannt. Chanoine Kir machte sich u.a. um die französisch-deutsche Aussöhnung nach 1945 verdient, eine der ersten Städtepartnerschaften war die von ihm initiierte jumelage zwischen Dijon und Mainz im Jahr 1958.
Für die zahlreichen Empfänge im Rathaus von Dijon führte Kir den Brauch ein, dass den Gästen als erstes ein Glas vin blanc kredenzt wurde, der mit einem guten Schuss Crème de Cassis versetzt war. Dieser Aperitif war auch früher schon als blanc-cassis beliebt. Aber nachdem ihn der Maire de Dijon quasi offiziell zum städtischen Begrüßungstrunk erklärt hatte, wurde dieser selbst namentlich zum Kir.
Und die Gäste machten ihn darüberhinaus weit über die Grenzen des Burgund und Frankreichs hinaus bekannt. Dass Monsieur Kir den Mix aus Wein und Johannisbeerlikör auch ganz persönlich sehr schätzte, zeigte er mit seiner Angewohnheit, bei seinen vielen Bahnreisen ‒ als langjähriges Mitglied der Assemblée Nationale pendelte er regelmäßig zwischen Dijon und Paris ‒ stets Weißwein und eine Flasche Crème de Cassis parat zu haben, um mit seinen Mitreisenden im Abteil einen Kir genießen zu können.
Neben den Grands Crus, den großen Gewächsen ‒ meistens rote Rebsorten wie Gamay und Pinot Noir ‒ reifen in den burgundischen Weinlagen auch einfache Weine, darunter der leichte, fruchtig-trockene Aligoté. Weine dieser weißen Rebsorte gelangten selten in den überregionalen Handel und galten traditionell als burgundischer Haus- oder Schankwein. Sowohl der Aligoté als auch die besten Johannisbeeren kommen vor allem aus dem nördlichen Teil des Burgund zwischen Beaune und Dijon. Größere Bekanntheit erlangte der Bourgogne Aligoté folgerichtig als gute Basis für einen Kir.
Es hat sich eingebürgert, zuerst den gut gekühlten Wein einzuschenken, um dann langsam und vorsichtig mit Johannisbeer-Likör aufzugießen. Der Cassis sinkt dabei auf den Boden des Glases ab, wo sich die purpurfarbene Süße konzentriert. Bei jedem Nippen am Kir nähert man sich dann dem vollen Johannisbeeraroma. Traditionsbewusste Liebhaber bestehen darauf, dass nur die Verwendung eines Aligoté den Namen Kir rechtfertige, ein anderer Weißwein ergäbe lediglich den altbekannten Blanc-Cassis.
Auch im Burgund werden manche Weißweine zu Schaumweinen ausgebaut. Wird ein solcher Crémant de Bourgogne oder gar ein Champagne aus dem etwas weiter nördlich gelegenen Weinanbaugebiet für einen Kir verwendet, serviert man ihn als Kir Royal. Dabei kommt zunächst der Cassis in den Sektkelch, um sich dann dank der sprudelnden Kohlensäure mit dem Schaumwein zu durchmischen.
Selbst mit cidre, dem aus der Bretagne kommenden, leicht moussiernden Apfelwein, bereitet man Kir zu und nennt ihn Kir Breton.
Eine kindgerechte Variante des Kir lässt sich aus Traubensaft und sirop de cassis zubereiten.
Und wenn man den Cassis zu einem roten statt einem weißen Wein gießt, trinkt der fromme Katholik, entsprechend dem Purpur kirchlicher Amtsgewänder, einen cardinal.
Von politisch eher links Gesinnten wird das gleiche Getränk – in Erinnerung an die rote Fahne der rebellischen Commune de Paris von 1870/71 – als communard geschlürft.
Für einen Kir wird etwa
1 Teil Crème de Cassis auf 4 Teile Aligoté/Weißwein gerechnet,
beim Kir Royal tut es etwa
1 Teil Crème de Cassis auf 9Teile Crémant/Champagne.
Dem deutschen Fernsehpublikum wurde der französische Aperitif 1986 mit der sechsteiligen Serie Kir Royal ein Begriff.
Das so köstlich prickelnde Getränk machte der Autor und Regisseur Helmut Dietl zum symbolischen Titel einer ebenso köstlich prickelnden Satire auf die vordergründig so liebenswert-legere Münchner Schickeria, hinter deren Fassade es jedoch knallhart und bierernst um den persönlichen Vorteil jedes Einzelnen geht.
Im Département Bouches-du-Rhône, rund 20km östlich von Marseille, liegt der alte Fischereihafen Cassis. Dort wird zwar ein leichter, fruchtiger Weißwein mit der →AOP Cassis gekeltert. Aber mit dem französischen Namen der schwarzen Johannisbeeren und dem aus ihnen hergestellten Likör Crème de Cassis hat der Ort nichts zu tun!
Dass sich der Provence-Wein, gut gekühlt, und der burgundische Johannisbeerlikör in Cassis zur südfranzösischen Variante eines Kir im Glas treffen, ist natürlich trotzdem gut denkbar.
Also so was wie ein Kir de Cassis …?!