*1758 Paris, †1838 Villiers-sur-Orge
Am 7. Juli 1812 wurde in der Pariser Presse das Ableben von Grimod de La Reynière angezeigt und etliche Persönlichkeiten erhielten Einladungen zu einem Begräbnismahl. Als sie dort eintrafen, begrüßte sie überraschend der quicklebendige Totgesagte zu einem opulenten Leichenschmaus.
Diese Art von Humor hatte Grimod zuvor schon einige Male gezeigt. Bereits 1783 verwirrte er hochrangige Gäste aus der feinen Pariser Gesellschaft mit einer kulinarischen Einladung im Stil einer Trauerkarte. Das Menu wurde regelrecht zum Schauspiel: Nach jedem Gang fielen, wie vor dem nächsten Akt eines Dramas, schwarze Vorhänge, morbid-erotisch kostümierte Figuren bedienten die Gäste an sargähnlich gestalteten Tischen, und die Szenerie wurde durch Licht- und Feuereffekte gespenstisch ausgeleuchtet. Weihrauchduft vervollständigte die Totenfeier-Atmosphäre.
Ein anderes Mal lud er zu einem öffentlichen repas archéologique (archäologisches Mahl) im Stil eines antiken römischen Gelages, bei dem neben erlesenen Speisen chinesische Schattenspiele und wissenschaftliche Experimente dargeboten wurden. In den 1960er Jahren hätte man Grimod wegen solcher Veranstaltungen wohl zum Happening-Künstler erklärt.
Grimod verstand das Ganze aber nicht als gruseligen Jux, sondern legte Wert auf gepflegte Gespräche über alle möglichen philosophischen Fragen um Leben und Tod, um Genuss und Abscheu. Deshalb gab es, wenn überhaupt, bei diesen Essenseinladungen kaum alkoholische Getränke. Dafür sollte literweise Kaffee das Denkvermögen der Teilnehmer beflügeln.
Die adlige Familie Grimod de La Reynière war allerdings über die skurrilen Selbstinszenierungen des Sprösslings im prächtigen familiären Stadt-Palais an der Place de la Concorde nicht sehr erfreut. Alexandres Vater war, wie auch schon der Großvater, als fermier général, als königlicher Zoll- und Steuerpächter, zu Wohlstand gekommen und genoss seriöses Ansehen.
Überhaupt hat es der kleine Alexandre von Anfang an nicht leicht in dem noblen Umfeld, in das er geboren wurde. Denn er hat von Geburt an eine Fehlbildung der Finger an beiden Händen, ein Makel, für den man sich in solchen Kreisen zu schämen pflegt. Deshalb verpasst man schon dem kleinen Jungen Prothesen, die er zudem unter weißen Handschuhen zu verbergen hat. Freunde berichten später, dass solche subtile Diskriminierungen in der Kindheit wohl dazu beigetragen hätten, dass er sich schon früh gegen den Standesdünkel besonders seiner Mutter aufgelehnt hat.
Seine Spielkameraden sucht er lieber in bürgerlichen und in Arbeiterfamilien als im adligen familiären Umfeld. Immerhin lassen die Eltern die Handprothesen mit einzeln beweglichen Fingern für viel Geld bei einem Uhrmacher anfertigen, und er lernt trotz der Schmerzen, die sie ihm bereiten, damit ziemlich geschickt umzugehen.
Aber die Erziehung überlassen sie weitgehend einer eigens hierfür engagierten Schauspielerin der Comédie Française. In Begleitung dieser Mlle Quinault schnuppert er erste Theaterluft und entwickelt die Begeisterung für die Scheinwelten, die er später für sich selbst erfindet.
Und obwohl die Eltern ihn am liebsten verstecken würden, erlebt er im Palais der Familie regelmäßig opulente diners, bei denen die feine Pariser Gesellschaft aufs feinste bewirtet und unterhalten wird. Er wächst quasi in die Rolle eines amphitryon hinein. Der Name des griechisch-mytholgischen Vaters von Herkules wurde irgendwann, keiner weiß so recht warum, im Französischen als Synonym für einen großzügigen Gastgeber eingeführt und gerne von Leuten gebraucht, die damit ihre klassische Bildung betonen wollten.
Später studiert Alexandre, dem elterlichen Wunsch entsprechend, Jura. Aber statt eines prestigeträchtigen und gut dotierten Postens als Richter entscheidet er sich für die Rolle des Anwalts und vertritt häufig als Pflichtverteidiger Mandanten, die sich einen Rechtsbeistand eigentlich nicht leisten können. Manchen armen Schlucker vertritt er gar unentgeltlich vor Gericht.
Aber seine große Leidenschaft gilt vielmehr den schöneren Dingen. Die er sich durchaus leisten kann, denn der Vater versucht, die mangelnde emotionale Zuwendung durch eine großzügige finanzielle Ausstattung auszugleichen. Schon während einer fast zweijährigen Reise, die ihn direkt nach dem Schulabschluss durch die Bourgogne und die französischen Alpenregionen bis in die Schweiz führt, frönt er weiter seiner Theaterleidenschaft und betätigt sich mit Erfolg als Feuilletonist bei mehreren Zeitungen. Zu seinem Freundeskreis zählen Schriftsteller, Schauspieler, Philosophen und andere namhafte Kulturschaffende. Auch den großen Freigeist Voltaire (†1778) lernt er noch persönlich kennen.
Den Hang zu Theatralik verbindet er gerne mit seiner Liebe zu gutem Essen und Trinken. Legendär werden schon bald die Frühstücks-Treffen, zu denen sich jeweils etwa 20 Gäste im Vierzehn-Tage-Rhythmus bei Grimod einfinden. Jedesmal lässt er seine Freunde die dargebotenen Speisen nach einem festen System bewerten, die Resultate notiert er genau. Und er geht persönlich auf die Pariser Märkte, um nur die besten Zutaten auszusuchen. Dabei beweist er großen kulinarischen Sachverstand und händlerisches Geschick, was ihm bei den Marktleuten, in Anspielung auf seinen Vater, den Spitznamen fermier général de la cuisine einbringt.
Wie diese Déjeuners Philosophiques gestaltet er regelmäßige Diners de mercredi (Mittwochs-Essen) als Test-Essen, bei denen die Gäste zur jury dégustateur werden und präzise Urteile über die aufgetischten Speisen abgeben.
Inszenierte Gastmahle wie die oben genannten festigen seinen Ruf als theatervernarrter Gourmet und amphitryon. Sicher bekämpft Grimod mit den aufwändigen Einladungen auch die Minderwertigkeitskomplexe, die ihm seine Beeinträchtigung und die daraus resultierende Ausgrenzung beschert hatten. Er freut sich über das große öffentliche Aufsehen und über die Klatsch-und-Tratsch-Presse, die ihn als extravaganten, um nicht zu sagen leicht verrückten Gastgeber präsentiert.
Bald verfasst er erste Schriften zu kulinarischen Themen. Aber anders als bei →Brillat-Savarin oder wenige Jahrzehnte später bei Alexandre →Dumas, die wie er als Laien zum Thema Küche geschrieben haben, sind seine Arbeiten nicht als Kochanleitungen gedacht, sondern er erhebt eher einen theoretisch-philosophischen Anspruch.
So lautet beispielsweise ein Titel von 1783 Réflexions philosophiques sur le plaisir (Philosophische Überlegungen über das Vergnügen). Ein Beispiel für Grimods Erkenntnisse:
Un vrai gourmand aime autant faire diète que d’être obligé de manger précipitamment un bon diner.
(Ein wahrer Feinschmecker liebt die Schonkost ebensowenig wie das erzwungene Verschlingen einer guten Mahlzeit). Und ganz im revolutionären Geist der Zeit erklärt er, dass
alle vor dem Gesetz und bei Tisch die gleichen Rechte und Pflichte haben. Die Tafel macht uns alle gleich.
Brillat-Savarin fasst um 1824 ähnliche Gedanken in den 20 aphorismes du professeur zusammen, die er seiner Physiologie du gout voranstellt. Erstaunlicherweise scheinen sich aber die beiden fast gleichaltrigen Gastrosophen trotz des gemeinsamen Lebensthemas nie persönlich begegnet zu sein.
1808 erscheint das Manuel des amphitryons, contenant un traité de la dissection des viandes à table, la nomenclature des menus les plus nouveaux pour chaque saison, et des éléments de politesse gourmande. In dem Handbuch für gute Gastgeber gibt er laut Untertitel praktische Tipps zum Tranchieren von Fleisch bei Tisch und klärt die Benennung der neuesten Speisen, theoretisiert aber auch über die Grundlagen der feinschmeckerischen Höflichkeit.
Der auch aus dem Fernsehen bekannte Vincent Klink, der als Küchenchef am Herd seines Restaurants Wielandshöhe in Stuttgart sowie als kulinarischer Autor ganz in der Tradition von Grimod steht, hat die Formulierung èléments de politesse gourmande zum Titel seines Buches Grundzüge des gastronomischen Anstands (2016) übersetzt. Darin überträgt Klink das Grimod’sche Gedankengut kongenial auf die heutige Zeit.
Im Tranchieren hatte sich Grimod übrigens mit seinen Hand-Prothesen wahre Meisterschaft antrainiert, offensichtlich genauso wie den gekonnten Umgang mit dem Degen und anderen Waffen. Denn 1786 erfährt sein angenehmes Leben in der Pariser Kulturszene eine unerwartete Unterbrechung. Grimod, als Hitzkopf bekannt, lässt sich aus nichtigem Anlass auf ein Duell mit einem Offizier ein, den er auf den Champs-Élysées mit einem Pistolenschuss tötet. Er wird aus der Hauptstadt verbannt und im königlichen Anwaltsverzeichnis streicht man seinen Namen. Dies wird neben dem verbotenen Duell von manchen auch darauf zurückgeführt, dass er schon damals mit seiner Sympathie für revolutionäre Ideen nicht hinter dem Berg hält. Er flieht in die Lorraine, wo er zwei Jahre in einem Kloster in den Vogesen verbringt. Aber im Gegensatz zu den Mönchen lebt er weder in Armut noch in Keuschheit. Er genießt weiter die finanzielle Unterstützung durch den Vater, und die Einsamkeit vertreiben ihm regelmäßige Besuche von Freunden aus Paris. Als ihn seine Familie, der irgendwann die Geduld ausgeht, vor die Alternative Irrenhaus oder Ausland stellt, reist er ins Elsass und erneut in die Schweiz. Die Schreckensjahre nach der 1789er Revolution übersteht er schließlich in Lyon, wo er, wieder ganz der Theaterliebhaber, die Schauspielerin Adélaïde-Thérèse Feuchère heiratet. Die kurz darauf geborene Tochter stirbt allerdings schon als Kleinkind.
Grimod stürzt sich in die Arbeit in seiner épicerie, die er mit Partnern als Grimod & Compagnie gegründet hat. Dort verkauft er neben Gewürzen (frz. épices) und Lebensmitteln auch allerhand sonstige Dinge des täglichen Bedarfs, die Bezeichnung entspricht also im Deutschen der Krämerei. Auch hier wählt er bewusst die Berufsbezeichnung épicier, um sich vom Dünkel seiner Familie abzuheben, die ihn wohl lieber als négociant, als seriösen Händler gesehen hätte.
Das Unternehmen unterscheidet sich von den üblichen Märkten durch feste Preise, und zum Erfolg trägt bei, dass die Lebensmittel ohne den Umweg über Zwischenhändler direkt vom Erzeuger kommen (ein Gedanke, der gerade heute wieder an Aktualität gewinnt!). In der Zusammenarbeit mit den Kunden in Lyon, der capitale mondiale de la gastronomie (→Sailland), vertieft Grimod seine kulinarischen Kenntnisse, die er in seinen späteren Schriften verarbeitet.
Wegen der Filialen, die die Compagnie in mehreren Städten eröffnet, ist Grimod nun häufig auf Reisen und vernachlässigt dabei den Überblick über die finanzielle Basis. Wohl deshalb gerät das Unternehmen ins Schlingern, und der Vater als stiller Teilhaber dreht den Geldhahn zu.
Die nach der Französischen Revolution wechselhaften politischen Verhältnisse bis zum Premier Empire unter Napoléon Ier ermöglichen ihm die Rückkehr nach Paris, wo er sich wieder vermehrt der Schriftstellerei widmet. Ab 1803 erscheinen die ersten Teile des Almanach des Gourmands. Der Untertitel servant de guide dans les moyens de faire excellente chère ; par un vieil amateur kündigt den Almanach der Feinschmecker als Führer zu den Möglichkeiten, gut zu essen und zu trinken an, geschrieben von einem alten Liebhaber.
Tatsächlich kann der Begriff guide hier schon im Sinne späterer Gastronomie-Führer wie Guide →Michelin oder Gault&Millau verstanden werden. Grimod verwendet zwar noch kein einheitliches Bewertungssystem nach Sternen, Punkten oder Kochmützen wie diese. Aber er beschreibt kurz und prägnant die Spezialitäten des Hauses sowie das jeweilige Ambiente. Und er verteilt nicht nur Lob, sondern vermerkt durchaus mit Enttäuschung oder gar mit harschen Worten, wenn z.B. die Qualität eines vorher gut bewerteten Restaurants unter einem neuen Inhaber oder Küchenchef nachgelassen hat. Die überwiegende Zahl der Hinweise betrifft allerdings nicht Restaurants und Cafés, sondern den Lebensmittelhandel. Da zeigen sich seine Erfahrungen als épicier in Lyon, denn er weist sachkundig auf besonders gute Würste dort, auf exzellentes Geflügel hier, auf die Spezialitäten einzelner affineurs de fromage (Käseveredler) oder auf eine außergewöhnliche Auswahl an Obst und Gemüse an einem bestimmten Marktstand hin. So gesehen ist der Almanach noch eher ein kulinarischer Einkaufs- als ein Restaurant-Führer.
Auch wenn das Buch die eine oder andere Adresse aus ferneren Regionen des Landes nennt, wendet sich der Guide, entsprechend der noch eingeschränkten Reisegeschwindigkeiten jener Zeit, vor allem an das Pariser Publikum. Und das ist begeistert! Auf die erste Auflage folgen in relativ kurzen Abständen insgesamt acht überarbeitete Editionen, die letzte 1812. Damit hat der Almanach schon fast den Jahresrhythmus heutiger Gastronomie-Führer erreicht. Für die Aktualisierungen sorgt Grimod mehrheitlich selbst, er verarbeitet aber auch Anregungen aus seiner Leserschaft. Und wie heute auch stieg mit dem Bekanntheitsgrad des Führers der Wunsch von Händlern und Gastronomen, dort wohlwollend erwähnt zu werden. Und dass Gastronomiekritiker, denen Grimod durchaus als ganz frühes Beispiel dienen kann, gastronomische Existenzen enorm befördern, genauso aber auch vernichten können, ist hinlänglich bekannt.
Eine parodistische Darstellung dieses Berufsstandes liefert der französische Komiker Louis de Funès 1976 mit dem Film L’aile ou la cuisse. In Brust oder Keule, so der deutsche Titel, wird neben der Macht der Testesser die moderne Lebensmittelindustrie auf die Schippe genommen.
Eine weitere sehenswerte – und die Lachmuskeln strapazierende – Verarbeitung des komplizierten Verhältnisses zwischen Küchenkunst und Küchenkritik kam 2007 mit dem Animationsfilm Ratatouille in die Kinos.
Wie gesagt, Grimod hat über alle möglichen kulinarischen und gastronomischen Fragen geschrieben, aber seine Bücher waren nicht als Kochanleitungen gedacht und enthielten deshalb keine deataillierten Rezepte. Dafür hat sich Alexandre →Dumas in seinem Grand Dictionnaire de Cuisine (1873) auf ihn als héros de cette époque (Held seiner Zeit) berufen. Dumas drückt seine Verehrung aus, indem er ihn mehrfach zitiert und ein paar Zubereitungen nach Grimod benennt: So überschreibt er das Rezept für mit geschmorten Zwiebeln gefüllte und mit Käse überbackene Artischockenherzen mit Artichauts à la Grimod de La Reynière. Eine gehaltvolle Suppe, für die ein fetter Kapaun mit Rindfleisch und Gemüse gekocht wird, bekommt den gleichen Namenszusatz, ebenso Tomaten, gefüllt mit würzigem Wurstbrät und im Ofen geschmort, und weitere Zubereitungen.
1872, also 70 Jahre nach der Erstausgabe von Grimods Almanach, wird Maurice Edmond →Sailland geboren, der unter dem Pseudonym Curnonsky einer der größten französischen Gastronomiekritiker wird und – ganz im Geiste Grimods – an der Entwicklung des →Guide Michelin beteiligt war. Dieser gilt heute, neben dem jüngeren Gault&Millau, als der wichtigste Gastronomieführer weltweit.