– Wer nicht liebt Wein, Weib und Gesang, der bleibt ein Tor sein Leben lang.
– Aus einem verzagten Arsch kommt kein fröhlicher Furz.
– Jungen Leuten ist Freude und Ergötzen so vonnöten wie Essen und Trinken.
Ja, er war sicher kein Verächter irdischer Genüsse, der Reformator Martin Luther, von dem diese – zugegebenermaßen aus dem Zusammenhang gerissenen – Zitate überliefert sind. Trotzdem hat sich der von seinen Lehren ausgehende Protestantismus in einigen Ausrichtungen den Ruf einer freud- und lustlosen, asketischen Glaubensgemeinschaft erworben.
Bereits zu Luthers Zeiten übertrieben manche seiner Anhänger die Abkehr vom römisch-katholischen Prunk und Protz, indem sie im sog. Bildersturm sämtliche sakralen Kunstwerke aus den Kirchen als Götzenanbetung verbannten. Musik, Tanz und andere Vergnügungen wurden als Ablenkung vom wahren Glauben verteufelt. Und sämtliche Fleischeslust galt in etlichen protestantischen, evangelikalen Gemeinschaften ohnehin als verderblich. Das betraf sowohl die sinnliche Erotik, die einer lustfeindlichen Fortpflanzungs-Sexualität weichen musste, als auch die Ernährung, in der man sich gefälligst eben zu ernähren hatte, nicht aber den kulinarischen Genuss ausleben sollte. Besonders auf den britischen Inseln und von dort aus in den nordamerikanischen Kolonien breitete sich die reine, also pure Lehre als Puritanismus aus. Der von Luther geliebte Wein diente nur noch als Blut Christi beim Abendmahl, das Weib hatte Kinder zu gebären, und gesungen wurden allenfalls Psalmen und Kirchenlieder.
In eine solche Glaubenswelt wurde Sylvester Graham hineingeboren. Sein Vater, der bei Sylvesters Geburt bereits 70 Jahre alt war und zwei Jahre später starb, war Pfarrer einer evangelikalen Gemeinde, und Graham hegte bald den gleichen Berufswunsch. Seine Frau, die er 1826 ehelichte, gehörte einer presbyterianischen Gemeinschaft an, und in New Jersey, südwestlich von Connecticut, erhielt er eine Anstellung als Prediger. Als größte Feinde eines reinen Glaubens machte auch Graham sexuelle und kulinarische Gelüste aus. Er verband beides sogar, indem er ungesunde Nahrung zur Ursache von ausschweifender Sexualität erklärte. Ein Hauptfaktor war in seinen Augen der enthemmende Alkohol, weshalb er eine Abstinenzler-Bewegung gründete.
Und er entwickelte eine spezielle Diät, die im Wesentlichen auf vegetarischer Nahrung beruhte. Selbst Gewürze lehnte er weitgehend ab, denn so manche Kräuter oder gar exotischen Spezereien sollen ja angeblich geheimnisvoll wirkende Substanzen enthalten! Seine frommen Anhänger, die sog. Grahamiten, gelten noch manchen heutigen Vegetariern als Pioniere ihrer Ernährungsphilosophie.
Besonderes Augenmerk richtete Graham auf das Grundnahrungsmittel Brot. Insbesondere dem Weißbrot, von der städtischen Bevölkerung gegenüber dem ländlichen, ärmlichen Graubrot bevorzugt, galt seine Ablehnung. Dabei hatte er, wie man inzwischen wissenschaftlich festgestellt hat, durchaus triftige Gründe – die ihm selbst wahrscheinlich gar nicht bewusst waren. Denn seinerzeit wurde das Mehl mit Chemikalien wie Chlor, Alaun und anderen gebleicht, was nachweislich gesundheitliche Gefahren birgt. Deshalb ist das Bleichen von Mehl für besonders hellen Teig heute in der EU generell verboten.
Keinesfalls wissenschaftlich begründbar ist allerdings die These Grahams, sowohl die Bleichmittel als auch Hefe oder Sauerteig als Triebmittel beförderten unbotmäßiges sexuelles Verlangen. (Deshalb findet solcherlei Backwerk auch keine Erwähnung in jenem Artikel dieses Lexikons, der sich mit →Aphrodisiaka befasst). Aber Graham bevorzugte gerade deshalb ein frommes, keusches Brot aus fein geschrotetem Weizen, dessen Körner nicht von den Schalen befreit wurden. Und um jeglichen sündigen Trieb zu unterdrücken, bekam der ungesalzene Teig aus diesem Vollkorn-Schrot lediglich durch Spontangärung, also mit Hilfe aus der Luft aufgenommener Hefepilzsporen, eine nur geringe Lockerheit.
In der weltweit sicher an Vielfalt unübertroffenen deutschen Brotkultur, die seit 2014 zum Immateriellen Kulturerbe zählt, hat auch das Graham-Brot längst einen festen Platz. Es wird, wie von Graham empfohlen, aus Weizen-Vollkorn-Schrot gebacken. Da es aber nach der reinen Spontangärung eine ziemlich feste und trockene, krümelige Angelegenheit bleibt, wird heutzutage meistens doch Hefe oder Sauerteig als Triebmittel verwendet. Auch den von Graham verordneten Verzicht auf Salz hat man aufgegeben. Meistens backt man das Brot aber immer noch in einer kastenförmigen oder runden Form. So musste es zu Grahams Zeiten gemacht werden, da der hefelose Teig sonst zu einem breiten Fladen auseinandergelaufen wäre. Aus Tradition hat man es dann wohl so beibehalten. In Österreich entstand allerdings irgendwann das Grahamweckerl, ein längliches, handgeformtes Brötchen. In dieser Form wird das Grahambrot gerne zur Zubereitung von gesundheitsbewussten →Sandwichs belegt. Wenn’s nach Graham ginge, natürlich ohne Schinken oder Wurst …!
In englischsprachigen Ländern nennt man das geschrotete, nicht gesiebte Weizen-Vollkorn Graham flour. Auch hierzulande steht auf der Mehltüte manchmal Graham-Mehl, dabei handelt es sich aber weder um eine fachsprachliche noch um eine offizielle Handelsbezeichnung.
Besonders in den USA werden daraus auch flache, etwas an →Leibniz erinnernde Kekse gebacken, die im Supermarkt als Graham Cracker zu haben sind. Die hätte der Prediger, der sie angeblich zusammen mit dem Diät-Brot selbst erfunden haben soll, aber wohl im Regal liegen gelassen, denn dem US-amerikanischen Volksgeschmack zuliebe werden die Cracker mit reichlich Butter und Zucker gebacken.