Ulis Culinaria

Charlotte Giebel

Anfang des 20.Jhs.?

Warum erfindet nicht endlich jemand was Besseres als diesen verdammten Stampfer?

Der verzweifelte Hilferuf kommt von Madame Simon, Lehrerin im belgischen Dörfchen Carnières. Sie steht an diesem Abend im Jahr 1927 in der Küche ihrer Dienstwohnung und ist nach einem eh schon anstrengenden Schultag dabei, Gemüse für eine Suppe durch ein Sieb zu drücken. Und ja, die Arbeit mit dem hölzernen Stößel in dem Trichter, durch dessen gelochten Boden das glitschige Gemüse in einen Topf gedrückt werden muss, ist wirklich ziemlich mühsam!

Der Gatte Victor Simon bemerkt die Not seiner armen Frau und will ihr helfen. Er nimmt allerdings nicht etwa Stößel und Trichter zur Hand, sondern Papier und Bleistift, um eine Idee aufzuzeichnen. Der 1888 geborene Victor hat sich schon länger mit nützlichen Erfindungen herumgeschlagen, aber noch ohne kommerziellen Erfolg. Zum Lebensunterhalt trägt er, neben dem Lehrerinnengehalt seiner Frau, mehr schlecht als recht mit Elektroinstallationen und kleineren Reparaturen bei. Aber das, was er da zunächst als lose Skizze zu Papier bringt, sollte sein Leben grundlegend verändern.

Er hat eine solide Ausbildung in Mechanik und Elektrotechnik absolviert und erinnert sich nun an ein Prinzip, das bereits der alte Grieche Archimedes mit einer geschlossenen Spirale zum Fördern von Wasser angewandt hatte

... der gute alte Archimedes ...!

Die archimedische Schraube

und das als archimedische Schraube bezeichnet wird. Victors Idee ist, das kräftezehrende Auf und Ab des Stampfers durch eine kontinuierliche, horizontale Drehbewegung zu ersetzen. Er baut in der Mitte des siebartigen Trichterbodens eine vertikale Achse ein, an der seitlich ein halbkreisförmiges, schrägstehendes Blech befestigt ist. Dieses Blatt, das praktisch der halben Windung einer archimedischen Spirale entspricht, drückt nun nicht Wasser nach oben, sondern gekochte Bohnen, Kartoffeln und anderes Gemüse nach unten durch das Lochsieb. Das Ende des Blattes streicht dabei wie ein Spachtel über die Löcher.

In Form einer Handkurbel setzt Simon das kraftsparende Hebelprinzip ein. Und anders als beim Stößel, vor dessen Druck das Gemüse gerne zur Seite ausweicht, wird es hier unter dem rotierenden Blech unentrinnbar gefangen.

Passiersieb

passoire

passe-vite

Gemüse-Mühle

passe-tout

moulin à légumes

Flotte Lotte

Madame Simon darf als Testperson einen in der häuslichen Werkstatt gebauten Prototyp testen und ist hellauf begeistert! Also macht sich Simon, inzwischen unterstützt von dem Eisenwarenhändler Richard Denis, daran, das Gerät weiter zu perfektionieren. 1928 meldet er es als passoire d’action rapide pour légumes et autres comestibles formée par Monsieur Victor Simon an und erhält das brevet d’invention, den Patentbrief N°348610. Das Schnellarbeits-Sieb für Gemüse und andere Lebensmittel, gestaltet von Herrn Victor Simon wird noch im gleichen Jahr bei der Brüsseler Handelsmesse unter dem von Mme Simon erdachten Markennamen Passe-vite (wörtlich passiert schnell) vorgestellt.

Und erzielt einen völlig überraschenden Erfolg! Die Verkaufszahlen sind mit rund 500 Geräten auf Anhieb so groß, dass die nun eigens gegründete Firma Simon & Denis kaum mit der Beschaffung der nötigen Materialien und Maschinen nachkommt, die weltweite Wirtschaftskrise nach dem 1. Weltkrieg macht die Lage nicht einfacher. Die bisherige Einzelproduktion muss auf Serienfertigung umgestellt werden, ein Kraftakt, den das kleine Unternehmen nur unter großen Mühen und knapp am Ruin vorbei bewältigt.

Und zu den technischen Schwierigkeiten kommt noch der Druck durch Nachahmer, die von der

genialen Erfindung profitieren wollen. Frau Simon zitiert später in ihrem Tagebuch ihren Mann mit den Worten: Die Nachahmung ist das Lösegeld für den Erfolg! Und sie bedauert den armen Erfinder, der glaubt, sich mit einem Patent im eigenen Land gegen die wenig ehrenhaften, dafür umso gierigeren Trittbrettfahrer schützen zu können, die in anderen Ländern die Früchte seiner Arbeit ernten. Besonders in Frankreich zwingen ihn Produktimitatoren zu zahlreichen und langwierigen Gerichtsverfahren.

Schon 1932 meldet in Paris ein Monsieur Jean Mantelet ein fast baugleiches Gerät unter der Bezeichnung moulin à légumes zum Patent an. Die Gemüse-Mühle nennt er für den Markt Légumex, und die aus dem Produkt entstehende Firma für allerlei Küchengerätschaften heißt bis heute Moulinex. Selbstverständlich war die zeitliche und technische Nähe zu Victor Simons Erfindung purer Zufall – sagt man dort …

Dass Simon seinen Patentbrief vier Jahre vor Mantelet erhielt, ist immerhin amtlich nachweisbar. Und 1939 entschied ein Gericht in Lyon, dass Mantelet wohl der Nachahmer sei, dass er seine Légumex aber weiter vermarkten dürfe, da Simon schließlich versäumt habe, sein belgisches Patent auch in Frankreich eintragen zu lassen.

Trotz all dieser Schwierigkeiten floriert der Absatz der Passe-Vite von Simon & Denis auch bei den kochbegeisterten französischen Nachbarn und im übrigen Europa. Wegen der unverminderten Nachfrage, die Stückzahlen haben längst die Millionengrenze überschritten, werden die männlichen Mitarbeiter während des 2. Weltkriegs sogar vom Militärdienst freigestellt. Die Passe-Vite kommt in einer großen Version für die Gastronomie und in einer kleineren mit handlichem Stielgriff für die private Küche auf den Markt. Zeitweise gibt es sie sogar in einer noch kleineren, aber voll funktionsfähigen Größe für die Kinderküche im Spielwarenhandel. Und irgendwann löste der pflegeleichte Edelstahl das frühere Weißblech ab. 50 Jahre nach der Patentanmeldung, 1978, stellt die von Simon und Denis gegründete Firma wegen Insolvenz den Betrieb ein, verwunderlich angesichts des Erfolges der Passiermühle.

Man hatte die Produktpalette inzwischen um einige andere, auch elektrisch betriebene Küchengeräte erweitert.

Zu den praktischsten Verbesserungen, die die Passe-Vite in ihrer Produktionsgeschichte mitbekommen hat, gehört der auswechselbare Siebeinsatz, sodass mit unterschiedlichen Lochgrößen die Feinheit des Ergebnisses reguliert werden kann. Das erhöht natürlich das Anwendungsspektrum: Die passierten Lebensmittel lassen sich zu Pürees, Suppen und Saucen verarbeiten, alle möglichen Früchte finden ihren Weg ins Marmeladen- oder Konfitürenglas über die Passe-Vite, zahllosen  zahnlosen Kleinkindern bereitet sie ihren Brei und und und. Selbst ein zähflüssiger Nudelteig lässt sich wie schwäbische Knöpfle durch die gröbste Scheibe wortwörtlich im Handumdrehen direkt ins kochende Wasser drücken.

Was das Ganze denn nun mit der als Überschrift dieses Abschnitts genannten Frau Giebel zu hat?

Wie bei Moulinex ist man natürlich auch bei dem deutschen Küchengeräte-Hersteller GEFU, früher Gebrüder Funke, weit vom Verdacht entfernt, einen der größten Verkaufsschlager der Firmengeschichte einem Plagiat zu verdanken. Die dort unter dem Markennamen

Flotte Lotte

angebotene Passiermühle gleicht zwar ebenfalls auffällig dem Urmodell von Victor Simon. Aber man beruft sich auf jene Dame namens

Charlotte Giebel,

die das Gerät um 1930 entwickelt haben soll und der deshalb dieser Artikel gewidmet ist. 

Nirgends jedoch, nicht einmal auf der Internetseite des Unternehmens, ist irgendetwas Näheres über die Dame zu erfahren.

War sie eine findige Köchin, die aus Bescheidenheit unbekannt bleiben wollte?

Oder hat sie das Gerät im Auftrag anderer erfunden, die lediglich ihren abgekürzten Namen verwendeten?

Und was, wenn man sie sogar nur erfunden hätte, um eventuelle patentrechtliche Schwierigkeiten zu vermeiden?

Man weiß es nicht!

Jedenfalls können hier deshalb weder Geburtsjahr noch andere biografische Daten jener Charlotte Giebel weitergegeben werden.

Dabei hat ja eigentlich eh alles schon beim alten Archimedes angefangen. Doch offensichtlich hat man ihn für zu honorig befunden, um ein banales Küchenutensil nach ihm zu benennen …

Aber, Markenrecht hin – Patentrecht her, Flotte Lotte hat sich in deutschsprachigen Küchen längst als die allgemeingültige Bezeichnung für alle derartigen Passiermühlen durchgesetzt.

In Frankreich ist man bei Simons passe-vite geblieben, alternativ sagt man passe-tout (passiert alles).

Und keine Köchin, kein Koch, die/der an pfiffiger Küchentechnik Spaß hat, wird bestreiten, dass das Gerät, völlig gleich, von welchem Hersteller es unter welchem Namen kommt, einfach praktisch ist. Es funktioniert nicht nur fast genauso schnell wie elektrische Maschinen, auch Passiermühlen gibt es inzwischen mit Kabel. Vor allem gegenüber dem Schneid- oder Pürierstab, den manche mit der Bezeichnung Zauberstab für ein küchentechnisches Allzweckwerkzeug halten, hat die Flotte Lotte sogar, neben ökologischen Aspekten, einen Vorteil, der oft übersehen wird. Denn mancher wundert sich, wenn er nach dem Pürieren von Kartoffeln oder anderen stärkehaltigen Lebensmitteln mit dem Zauberstab eine zähe, klebrige Masse im Topf hat. Die Hochgeschwindigkeit des rotierenden Messers trennt die Stärke von den anderen Inhaltsstoffen und lässt sie zu dickem Kleister werden. Das Malheur kann einem mit der Lotte, so flott sie auch sein mag, nicht passieren.