Ulis Culinaria

Anna Deslions

*1820, † 1873

Das Champ-de-Mars 1867 mit dem riesigen Pavillon. Auf der Fläche zwischen Pavillon und Seine (am unteren Bildrand) wurde 22 Jahre später der Tour Eiffel errichtet.

EXPO 1867

Am 7. Juni 1867 fand im Café Anglais in Paris ein denkwürdiges Gastmahl statt, das als Dîner des Trois Empereurs in die Gastronomiegeschichte einging.

Im April war die achtmonatige Weltausstellung auf dem Champ-de-Mars eröffnet worden, und aus diesem Anlass reisten nicht nur Handelsunternehmer, Erfinder und potenzielle Käufer in die französische Metropole, sondern diese Messe wurde, wie schon 12 Jahre zuvor, auch als Stelldichein der großen Weltpolitik genutzt.

Das Café Anglais befand sich im Zenit seines Restaurantdaseins. Hier traf sich die feine Gesellschaft aus Politik, Handel und Kultur. Zu den Stammgästen gehörte auch der als Feinschmecker bekannte Schriftsteller Alexandre →Dumas der sich vom Chefkoch des Café Anglais für sein Grand Dictionnaire beraten ließ. Diesem Chefkoch, Adolphe Dugléré aus Bordeaux, der sein Handwerk bei Altmeister →Carême erlernt hatte, war es zu verdanken, dass sich im Anglais die prominentesten Besucher die Klinke in die Hand gaben. Und die exposition universelle brachte zusätzlich eine Menge Gäste. Der preußische König und spätere Kaiser Wilhelm I. liebte z.B. besonders die potage Germiny, eine von Dugléré kreierte Sauerampfer-Rahmsuppe.

le Café Anglais

Wilhelm I.
Alexander II.
Otto von Bismarck

Deshalb wählte er auch das Café Anglais als Ort für ein äußerst hochrangiges kulinarisch-politisches Treffen, zu dem er den preußischen Ministerpräsidenten →Bismarck und den russischen Zaren Alexander II., begleitet von seinem Sohn und Nachfolger →Alexander III., einlud. Die Drei Herrscher – natürlich wurde Bismarck nicht als Empereur gezählt – forderten den Küchenchef auf, ein Menü zu zaubern, an das sie sich lange erinnern wollten. Und der legte sein ganzes Können in eine Abfolge von nicht weniger als 16 Gängen, die über einen Zeitraum von etwa acht Stunden serviert wurden. Dass es dazu nur die erlesensten Weine und Champagner gab, versteht sich von selbst.

Aber nicht nur die Pariser Gastronomie profitierte von dem Besucherandrang der Weltausstellung. Einen besonderen Berufsstand, der in den Jahren des Second Empire eh schon eine gewisse Blütezeit erlebte, repräsentierten die Damen, die mit ihren körperlichen Reizen ihren Lebensunterhalt bestritten. Nur wenigen gelang es, der elenden Straßen- und Bordellprostitution zu entkommen, indem sie ihre Kundschaft in der gehobeneren Gesellschaft fanden. Allerdings gehörten sie nicht wirklich dazu, weshalb man sie als demi-mondaines bezeichnete, Halbwelt-Damen (→Antigny).

demi-mondaine

Anna Deslions

Auch Anna Deslions lebte eine Zeitlang nicht schlecht von der Zuneigung solcher feiner Herren, und besonders gerne traf sie sich mit ihnen in den intimen Séparées des Café Anglais. Mit ihren tiefschwarzen Haaren und der blassen Haut entsprach sie ganz dem aktuellen Schönheitsideal, und Zeitgenossen verglichen sowohl ihr Gesicht als auch ihre Statur mit der Ästhetik antiker griechischer Statuen. Ihre Affairen mit manchen prominenten Herren waren Tagesgespräch und wurden in der Presse ausführlich kommentiert. Über andere Techtelmechtel wird bis heute spekuliert. So wird Prince Napoléon, einem Neffen des Präsidenten der Deuxième République und späteren Kaisers Napoléon III, ein Verhältnis mit Anna Deslions nachgesagt. Und der Kaiser selbst war ebenfalls im Gespräch. Aber da schweigen die meisten Chronisten vornehm …

Pommes Anna

Etliche Beispiele in diesem Buch zeigen, dass auch große Köche wie Auguste →Escoffier offensichtlich so von den illustren Damen beeindruckt waren, dass sie immer mal wieder kulinarische Erfindungen nach ihnen benannten. Und Dugléré widmete seinem schönen Gast eine Kartoffelzubereitung, die als Pommes Anna bis heute als Beilage zu allerlei Fleischgerichten serviert wird.

Kartoffeln, französisch pommes de terre, werden geschält und in feine Scheiben von einem bis zwei Millimeter Dicke geschnitten oder gehobelt. Eine feuerfeste Form wird ausgebuttert und eine erste Kartoffelschicht kommt auf den Boden. Dabei bildet man konzentrische Kreise, bei denen sich die Kartoffelscheiben dachziegelartig überlappen. Darauf kommen Butterflöckchen, alternativ wird zerlassene Butter aufgepinselt. Dann kommt die nächste Lage, wobei die Laufrichtung der Ringe entgegengesetzt verläuft, und erneut Butter. So kommt Schicht für Schicht, jeweils von reichlich Butter getrennt und leicht mit Salz und Pfeffer gewürzt, übereinander, bis eine Dicke von fünf bis sechs Zentimetern erreicht ist.

Das Ganze wird mit einer Lage Pergamentpapier abgedeckt und leicht angedrückt. Während einer guten Stunde bei etwa 200°C im Ofen bildet sich am Boden der Form eine schöne goldbraune Kruste. Dies gelingt aber nur, wenn die Kartoffeln vor dem Einschichten gut trocken waren, denn sonst würden sie eher kochen. Manche Rezepte empfehlen, die frisch geschnittenen Kartoffeln zu wässern, um überschüssige Stärke herauszuwaschen. Dann müssen sie eben sehr sorgfältig abgetrocknet werden. Diesen Arbeitsschritt kann man sich ersparen, indem man festkochende Sorten verwendet. Zufällig gibt es solche Kartoffelsorten auch unter den Namen Anna oder Annabelle, deren Namensgebung hat allerdings mit Anna Deslions nichts zu tun. Gegen Ende der Garzeit entfernt man das Butterbrotpapier, damit auch die Oberseite bräunen kann.

Oder man stürzt das Ganze nach der halben Zeit in eine zweite Form und lässt es nochmals kurz im Ofen überbacken. So oder so sollten die Pommes Anna einerseits eine lockere Struktur, im Inneren saftig und oben und unten knusprig aufweisen, und nach dem anfänglichen sanften Druck als kompakter Kuchen zusammenhalten. Und die Butter, die von den Kartoffeln gierig aufgesaugt wurde, lässt beim leichten Bräunen köstliche, röstig-nussige Aromen entstehen. Das sorgfältige Einlegen der Kartoffelscheiben in Schuppenringen ergibt nicht nur einen appetitlichen Anblick, sondern garantiert auch ein gleichmäßiges Garen. Zum Servieren als Beilage wird der Kartoffelkuchen in Viertel geschnitten, die jeweils gerade eine Portion ergeben.

Als Form eignet sich eigentlich jedes feuerfeste Gefäß, dessen Rand hoch genug ist. Die typisch französischen Tarte-Formen aus weiß glasiertem Steingut mit dem geriffelten Rand sind also meistens zu flach, denn die Pommes Anna brauchen eine gewisse Höhe, um im Ofen zwar an der Oberseite knusprig braun zu werden, aber darunter nicht auszutrocknen. Manche benutzen eine Charlotte-Form, wie sie für das gleichnamige Dessert zum Einsatz kommt (→Mecklenburg). Als kleinere Beilagenportion werden die Kartoffeln in manchen Restaurants in ramequins zubereitet und serviert, diesen Porzellan-Förmchen, in denen auch soufflés, crème caramel und andere Köstlichkeiten entstehen.

Als edles – und entsprechend teures – Kochgeschirr bekommt man im französischen Küchenfachhandel eine casserole pommes Anna aus Kupfer, die innen verzinnt ist. Im etwas höheren unteren Topf werden die Kartoffeln eingeschichtet und dann für den zweiten Ofengang in den etwas flacheren Deckel gestürzt, in welchem sie auch aufgetischt werden können. Das glänzende Kupfer schmückt durchaus eine festliche Tafel, hat aber vor allem den Vorteil, dass es die Hitze sehr gleichmäßig verteilt.

Die Anna-Kartoffeln unterscheiden sich vom gratin dauphinois, für welches die Kartoffelscheiben meistens etwas dicker geschnitten werden. Aber vor allem saugt sich das Kartoffelgratin, wie es im Deutschen genannt wird, anstatt mit Butter mit Milch und reichlich Sahne voll.

Gelegentlich wird die Urversion von Dugléré noch mit gehacktem Rosmarin oder anderen Kräutern abgewandelt. Und selbst süße Zubereitungen, bei denen sich die pommes de terre mit pommes abwechseln und die dann, statt mit Salz und Pfeffer, mit Zimt und Zucker gewürzt werden, findet man unter dem Namen Pommes Anna.