1873 Detroit, †1916 Padova
Wie immer, wenn Neureich sich mit Adel vermählt, hat auch 1890 die internationale Klatschpresse gejubelt, als die erst 16-jährige amerikanische Millionärstochter Clara Ward den 32 Jahre alten belgischen Fürsten Joseph, Prince de Camaran-Chimay ehelichte. Der Stammsitz dieses Fürstengeschlechts befindet sich seit dem 15.Jh. im wallonisch-belgischen →Chimay.
Claras Vater, der starb, als sie gerade 16 Monate auf der Welt war, hatte mit Dampfschiffen auf den Great Lakes, im Stahlgeschäft, mit Silberminen und im Eisenbahnbau ein Millionenvermögen angehäuft. Durch die Ehe mit dem belgischen Prinzen wurde der ererbte Reichtum der schönen Clara zusätzlich mit dem Titel Princesse de Chimay aufgewertet. Die Hochzeitsfeier fand standesgemäß in Paris statt, und auch in den folgenden Jahren war das illustre Paar häufig in jener Stadt zu Gast, dem Zentrum der Belle Époque.
Aber schon nach einer knapp sechsjährigen Ehe, in der Clara de Chimay eine Tochter und einen Sohn gebar, machte die Dame erneut Schlagzeilen: Beim Besuch eines Pariser Restaurants 1896 trat der ungarische Geiger Rigó Jancsi auf, von dessen Gipsy-Musik sie offenbar beeindruckt war. Sie verliebte sich, brannte mit ihm durch, und ein Jahr später wurde die Ehe mit dem belgischen Fürsten geschieden. Sowohl die Familie Chimay als auch ihre eigene drehten ihr nach und nach den Geldhahn zu.
Eine Weile lebte das Paar auch in der Lüneburger Heide und in der ungarischen Heimat des Geigers, wo geheiratet wurde. Wegen seiner Popularität widmete ein ungarischer Konditor dem Musiker sogar eine Tortenkreation (→Rigó).
Um neben den Gagen ihres Mannes etwas zum Lebensunterhalt beizusteuern, erfand Clara, die nach wie vor den adligen Titel aus der ersten Ehe verwendete, eine eigene Kunstform: Sie trat in hautengen und hautfarbenen Köstümen auf, die sie fast nackt erscheinen ließen. Die gekünstelten Posen, die sie später auch in den berühmten Paiser Cabarets wie den Folies Bergère zeigte, nannte sie poses plastiques. Damit schuf sie eine Spielart der damals beliebten Mode, in sog. tableaux vivants (lebenden Gemälden) historische, religiöse oder sonstige Szenen darzustellen.
Als Vorbild könnten ihr die attitudes gedient haben, mit denen gut hundert Jahre zuvor die schillernde Lady →Hamilton für Aufsehen gesorgt hatte, wenn auch ohne die erotische Note.
Neben den Bühnenauftritten verkaufte sie die poses auch als Fotografien, und dem Szene-Künstler Henri de Toulouse-Lautrec soll sie als Modell für die Lithographie Idylle Princière gedient haben. Dort ist ein elegantes Paar in einer Theaterloge dargestellt, der schnauzbärtige Herr gleicht sehr dem Gipsy-Geiger Rigó, wie er in Fotos überliefert ist.
Doch dessen feurige Musik gefiel wohl auch anderen Damen, denn schon bald gab es diverse Affären, und auch diese Ehe endete beim Scheidungsrichter.
In diesen Jahren wurde die französische Gastronomie stark beeinflusst von dem Jahrhundertkoch Auguste →Escoffier, der gerade in Paris sehr häufig kulinarische Kreationen nach künstlerisch herausragenden Persönlichkeiten – meist weiblichen Geschlechts – benannte. Ob der große chef Clara de Chimay persönlich kennengelernt oder gar für sie gekocht hat, ist nicht überliefert, wäre aber durchaus möglich gewesen. Jedenfalls hat er zwei Gerichte nach ihr benannt, ob noch während ihrer Ehe mit Joseph oder danach ist nicht bekannt. Aber die plastischen Posen hätten dem kunstsinnigen Escoffier sicher auch gefallen.
Bei dem ersten Gericht handelt es sich um œufs durs farcis, eine Vorspeise aus hartgekochten, gefüllten Eiern. Die wachsweichen Dotter vermengte er mit einer duxelles, der nach dem Grafen →d’Uxelles benannten Pilzfarce. Die damit befüllten Eierhälften gratinierte er mit einer Sauce →Mornay und zusätzlich geriebenem Käse und nannte das Ganze Œufs à la Chimay.
Das zweite Rezept findet man in unzähligen Kochbüchern, die nach Escoffier geschrieben wurden. Aber nirgends ist die Zubereitung einer Poularde (à la) Chimay so knapp beschrieben worden, wie es der Meister selbst in seinem Hauptwerk, dem Guide Culinaire getan hat:
Farcie de 250 grammes de nouilles sautées au beurre et liées avec 100 grammes de farce mousseline. Poêlée doucement, dressée, et nappée d’un jus de volaille lié. Entourée de bouquets de pointes d’asperges au beurre et de nouilles sautées.
Fertig!
Die Poularde wird also gefüllt mit 250g Nudeln, die in Butter geschwenkt und mit 100g Mousseline-Farce vermengt wurden. Sanft in der Pfanne gebraten, angerichtet und mit dem einreduzierten Geflügel-Bratensaft begossen. Umgeben von Bündelchen aus in Butter geschwenkten Spargelspitzen und von gebratenen Nudeln.
Bei der Mousseline handelt es sich um eine feine, glatte Füllung aus Geflügelfleisch, Eiklar und Sahne, dezent mit Muskat abgeschmeckt. Wenn die Sahne zumindest teilweise steif geschlagen wird, erhält die Füllmasse eine lockere, schaumige Konsistenz: Frz. mousse = Schaum.
Zwar hat auch Escoffier selbst dieses so einfache wie köstliche Gericht in späteren Ausgaben des Guide Culinaire schon leicht abgewandelt. Z.B. empfahl er, die Mousseline-Farce mit etwas foie gras zu verfeinern. Aber in der gehobenen Gastronomie wird es in der Regel immer noch originalgetreu zubereitet. Allenfalls fügt man in der einen oder anderen Küche noch etwas Trüffel hinzu.
Oft wird nicht eine ganze Poularde gefüllt, sondern, als gastronomiefreundlichere Einzelportion, die taschenförmig eingeschnittene Hühnerbrust bzw. das suprême, bei dem noch der Schenkel dazugehört. Und natürlich serviert man auch diese Variante unter dem Namen der schillernden Clara de Chimay, an deren hautfarbene Köstüme Escoffier vielleicht durch die zarte Poulardenbrust erinnert wurde.