*1840 Martizay, †1874 Paris
Im Frankreich des Second Empire zwischen 1852 und 1870 entstand der Begriff der demi-monde, der Halbwelt, die zwischen den sprichwörtlichen oberen Zehntausend und der abhängig arbeitenden Bevölkerung angesiedelt war. Eine wichtige Rolle spielten Damen, die sich als mehr oder weniger dauerhafte Begleiterinnen gut situierter (und nicht selten bereits verheirateter) Herren einen ansehnlichen Lebensunterhalt verdienten. Von der Masse der Prostituierten unterschieden sie sich, indem sie am mondänen Leben ihrer Galane aktiv teilnahmen, ohne allerdings wirklich dazuzugehören. Deshalb nannte man sie demi-mondaines, Halbwelt-Damen.
Ein anderer Begriff entstand bereits im Italien des späten Mittelalters und der Renaissance für Damen, die eine solche Lebensweise am fürstlichen Hof, dem corte, pflegten und deshalb als cortigiana bezeichnet wurden. Ein Herr, der sich vergleichbar am Hofe andienerte, hieß entsprechend cortigiano, zu deutsch Höfling. Am französischen Hof, dem court, wurden daraus der courtisan bzw. die courtisane, auch auf deutsch als Kurtisane im Sprachgebrauch.
Manche dieser Damen boten nicht nur ihre erotischen Reize an, sondern nahmen erheblichen Einfluss auf die politische Arbeit und das familiäre Leben ihrer Herren, sei es durch intelligente Einmischung, intrigantes Geschick oder durch gemeinsame Nachkommen, die in der höfischen Hierarchie aufstiegen. Berühmte Vorbilder gab es schon in der Antike mit den griechischen Hetären und Frauen wie Messalina oder Theodora. Später machten sich Mary Boleyn, Madame de Pompadour oder Lola Montez (Bild) einen Namen als prominente Vertreterinnen ihres Standes, um nur wenige zu nennen.
Nach der französischen Revolution hatte sich das Interesse der Damen von der Welt der Politik auf Herren ausgeweitet, die durch wirtschaftlichen Erfolg oder durch besondere Leistungen in Malerei, Literatur, Musik oder später in der aufkommenden Filmbranche zu Wohlstand gekommen waren. Manche schöne courtisane wurde so selbst zum Modell für berühmte Gemälde und nannte sich gerne Muse, die den Künstler zu Höchstleistungen inspirierte. Andere wurden zum Vorbild für literarische Verarbeitung wie z.B. Cora →Pearl im berühmten Roman Nana von Émile Zola oder in der Komödie Demi-Monde und in der Kameliendame (La dame aux camélias) von Alexandre Dumas d.J. Dass das Halbwelt-Dasein allerdings nicht nur von Luxus und Vergnügen geprägt war, beschreibt Honoré de Balzac anschaulich in Splendeurs et misères des courtisanes (Glanz und Elend der Kurtisanen).
Der Maler Henri de Toulouse-Lautrec hat die Szenerie der salons, der kleinen Cabarets, Theater und anderer Etablissements, in denen sich die kulturell getarnte Prostitution abspielte, in unzähligen Bildern festgehalten.
Andere Bezeichnungen dieser Damen lauteten lorette nach der Église Nôtre-Dame-de-Lorette im heutigen 9. Arrondissement von Paris, um die herum viele von ihnen ihre Etablissements unterhielten, oder cocotte, ein volkstümlicher Ausdruck für eine Henne, die dem Hahn (frz. le coq) seine letzte Kraft abverlangt …
Besonders anschaulich wird die Tätigkeit, mit der die Damen ihren Luxus finanzierten, durch den Spitznamen grandes horizontales beschrieben.
Marie Ernestine Antigny kommt als Kind mit ihren Eltern, die auf Arbeit hoffen, aus dem Loiretal nach Paris und trägt mit kleinen Jobs zum Familienunterhalt bei. Als Dreizehnjährige arbeitet sie in einem kleinen Kaufhaus, wo ihre Schönheit einem Rumänen ins Auge fällt, der sie kurzerhand in seine Heimat mitnimmt. Dort erlernt sie unter anderem das Reiten, was ihr nach ihrer Rückkehr mit 16 Jahren eine Anstellung im cirque d’hiver, dem Winterzirkus von Paris verschafft. Kurz darauf verkörpert sie in einem kleinen Theater als lebende, aber stumme Aktfigur die antike →Helena. Ihre sinnliche Erscheinung erregt die Aufmerksamkeit besonders des männlichen Publikums. Schnell wird sie in den Salons der gehobenen Kreise bekannt und schlüpft in die Rolle der typischen demi-mondaine. Sie erhält weitere Theaterengagements, den Durchbruch als Schauspielerin wie z.B. die berühmte, vier Jahre jüngere Sarah →Bernhardt schafft sie allerdings nie. Kritiker spötteln, stumme, dafür aber kostümsparende Parts ließen ihre Vorzüge eh mehr zur Geltung kommen als Sprech-Rollen.
Ob sich in diesen Jahren manche Schauspielerinnen und Sängerinnen nebenbei als Kurtisanen betätigten oder umgekehrt, ließ sich nicht immer klar definieren. Mal belustigt, mal moralisierend beschrieb die Pariser Presse bisweilen Theater- und Operettenbühnen als Orte, an denen mehr oder meist weniger bekleidete Damen ihre erotischen Reize zur Schau tragen, denen dann hinter den Kulissen die galanten Herren der Halbwelt zum Opfer fallen. Nicht umsonst lässt Zola in Nana einen Impresario das eigene Theater als Bordell bezeichnen.
Mit 22 Jahren folgt Marie dem russischen Diplomaten und späteren Kanzler Alexander M. Gortschakow nach Sankt Petersburg, wo sie als Kurtisane am Zarenhof die einflussreichsten Männer des Reiches kennenlernt. Sie wird mit Schmuck, erlesenen Kleidern und anderen Kostbarkeiten überhäuft. Wohl wegen ihrer makellosen hellen Haut verleihen ihr die Herren den Beinamen Blanche und sie nennt sich nach ihrer Rückkehr nach Paris Blanche d’Antigny.
Der scheinadlige Name scheint ihr besser zu dem Luxus zu passen, mit dem sie seit der Zeit in Russland ausgestattet ist. Sie setzt ihre Schauspielkarriere fort, und berühmte Maler wie Gustave Courbet und Paul Baudry verewigen ihre Schönheit in allegorischen Aktgemälden. 1873 kommt sie durch ein Theaterengagement nach Alexandria in Ägypten, wo sie allerdings nach einem halben Jahr an Thyphus erkrankt. Sie kehrt nach Paris zurück und stirbt am 27. Juni 1874. Unter großer Anteilnahme wird sie auf dem Pariser Friedhof Père-Lachaise beigesetzt. Ihr früher und elender Tod hat den bereits erwähnten Schriftsteller Zola sicher so wie das Leben von Cora Pearl zu seiner Nana inspiriert.
Der berühmte Koch und Zeitgenosse Auguste →Escoffier liebte es, neue Rezeptkreationen nach berühmten Persönlichkeiten zu benennen. Und dazu gehörte durchaus auch die eine oder andere Halbwelt-Dame (→Pearl).
Ob Escoffier Blanche d’Antigny persönlich kannte, ist nicht überliefert. Er arbeitete allerdigs längere Zeit in der Küche des Cabarets Le Petit Moulin Rouge, in dem sie, gerade aus Sankt Petersburg zurückgekehrt, unter Umständen auch mit dem einen oder anderen Galan diniert haben könnte. Jedenfalls gilt ein Eis-Dessert namens Coupe d’Antigny als kulinarische Erfindung Escoffiers. In seinem Guide culinaire schweigt sich der Meister über jegliche Motive zu diesem Rezept vornehm aus.
Das Rezept selbst ist recht einfach, dafür lebt es von der Qualität der Zutaten:
Ein gläserner Kelch (frz coupe) wird zu ¾ mit Eiscreme aus frischen Erdbeeren und Rohmilch-Sahne gefüllt. Escoffier empfiehlt fraises des Alpes, also Walderdbeeren. Als les plus parfaits , als perfekteste Beispiele für exzellente Sahne nennt Escoffier die fleurette aus der Normandie und Rahm von den Alpen-Weiden.
Auf das Erdbeereis kommt ein halber in Zucker-Vanille-Sirup pochierter Pfirsich. Den krönenden Abschluss bildet un petit voile de sucre filé, ein feiner aus Zuckerfäden geponnener Schleier.
Dieses weiße Gespinst bringt den Künstlerinnen-Namen Blanche ins Spiel und lässt wie ein transparentes Kostüm den hautfarbenen Pfirsich durchschimmern.