Ulis Culinaria

Sète

Étang de Thau

Der Golfe du Lion wird umschlossen von dem südfranzösischen Küstenbogen, der sich von den Pyrenäen im Südwesten bis Marseille im Nordosten spannt. Ziemlich genau in der Mitte dieses Viertelkreises liegt der Étang de Thau (oder Bassin de Thau), einer der vielen Lagunenseen, die den Küstenabschnitt prägen. Eine schmale Landzunge trennt den etwa 20km langen étang vom offenen Meer. Durch Kanäle, die die Nehrung durchschneiden, findet ein Austausch mit dem Mittelmeer statt. Niederschläge, ein paar Bäche und der Canal du Midi im Westen versorgen den See mit Süßwasser. An das so entstehende Brackwasser sind etliche Fischarten angepasst, auch Muscheln fühlen sich hier wohl. Huîtres (Austern) und moules (Miesmuscheln) werden in Aquakulturen gezüchtet.

privilegierte Lage

zwischen Land und Meer

Blick vom Mont-Saint-Clair auf Sète und die Muschelbänke

Am nordöstlichen Ende der Landzunge zeichnet sich eine felsige Anhöhe ab, die von den Römern mons setius genannt wurde. Hier entstand die Siedlung, in deren Namen Sète die lateinische Bezeichnung weiterlebt. Der Hügel selbst heißt heute Mont Saint-Clair. Im Wappen von Sète schwimmt ein fetter Wal, der im Griechischen kétos, im Lateinischen cetus genannt wird. Obwohl das Städtchen nie für Walfang bekannt war, leiten manche Etymologen den Ortsnamen hiervon ab.

Von Anfang an waren – auch ohne Wale – Fischerei und Muschelkultur die wichtigste Grundlage der Bevölkerung. In bescheidenerem Ausmaß wurden auf den fruchtbaren Böden des teils von Schwemmland, teils vulkanisch geprägten Landes Gemüse und Wein angebaut. Auch die Salzgewinnung in salins (→Aigues-Mortes) warf einige Erträge ab. 

le Canal du Midi

Ab dem 18.Jh. bekam der Hafen von Sète überregionale Bedeutung: Durch den Bau des Canal du Midi wurde der Étang de Thau in westlicher Richtung mit Toulouse und weiter über Bordeaux mit dem Atlantik verbunden. Nach Osten kam der Canal du Rhône à Sète hinzu, auf dem die Schiffe bei →Beaucaire die Rhône und weitere Kanalverbindungen zu den Zentren im Norden (Lyon, Paris) erreichten. Obwohl die Bedeutung der Kanäle als Handelswege durch den Ausbau des Eisenbahnnetzes abgenommen hat, ist Sète heute nach Marseille der zweitgrößte französische Handelshafen am Mittelmeer. Dafür bieten die alten Wasserstraßen wie die Lagune selbst als touristisches Revier von Freizeitkapitänen eine neue Erwerbsquelle. Sète wird durchzogen von Kanälen, die den See mit dem Meer verbinden, was der Stadt die Bezeichnung Venise du Languedoc eingebracht hat.

Zwei mal Fischtopf, bitte!

Bourride à la sétoise oder

Soupe de poissons sétoise?

Natürlich ist die Küche der Stadt geprägt von dem, was Meer und Lagune bieten.

Was den marseillais ihre bouillabaisse (→Marseille), ist den sétois die Bourride à la sétoise. Der Name des Gerichts geht auf das okzitanische Wort boulido zurück (frz. bouilli, gekocht) und hat somit ähnliche sprachliche Wurzeln wie die Bouillabaisse. Während dort vor allem poissons de roche, Felsenfische in den Topf kommen, sind es bei der bourride hauptsächlich poissons blancs, weißfleischige Fische. Dies sind z.B. baudroie (Seeteufel), turbot (Steinbutt) oder bar (Wolfsbarsch). Die in Stücke geschnittenen Fischfilets werden in einem Weißweinsud mit Zwiebeln, Wurzelgemüse, Thymian und Lorbeer pochiert. Zitronenscheiben und Orangenabrieb geben frisches Aroma. Der Sud wird am Ende mit crème fraîche und aïoli gebunden. Die Knoblauchmayonnaise wird auch auf die croûtons gestrichen, die gerösteten und im Teller schwimmenden Brotscheibchen. In Marseille nimmt diese Rolle die rouille ein.

Etwas rustikaler kommt die Soupe de poissons sétoise daher. Hier wurden seit jeher die Fische verwendet, die der Tagesfang gerade hergab, also meistens eine bunte, variable Mischung.

Der Weißwein-Gemüse-Sud wird angereichert durch passierte Tomaten, gewürzt mit reichlich Knoblauch und piment. Wenn die Fischstücke gar sind, wird die Suppe püriert. Die Farbe der Tomaten wird durch Safran intensiviert. Und hier kommt nun die rouille zum Einsatz. Die Creme aus gekochter Kartoffel, Eigelb, Olivenöl und Knoblauch wird mit Cayennepfeffer nach Gusto mehr oder weniger scharf gewürzt und ebenfalls mit Safran orangerot gefärbt. Jeder Gast streicht sie sich, wie die Aioli bei der o.g. Bourride, auf Croutons, die dann im Suppenteller zu Schiffchen werden. Mancher Genießer reibt zusätzlich etwas würzigen Käse darüber. Häufig bekommt die Suppe separat gegarte und aus der Schale gelöste moules (Miesmuscheln) als Einlage.

Die aufwändige Zubereitung kann man sich durch den Kauf einer Konserve sparen, die in Sète hergestellt wird und wegen der tatsächlich guten Qualität (z.B. über 50% Anteil an Fischfleisch) das begehrte →Label Rouge tragen darf. Für Feinschmecker sicher ein geeigneteres Urlaubsmitbringsel als so mancher Souvenirbuden-Kitsch. Auch eine gute Rouille bekommt man in jedem französischen Supermarkt, selbst im deutschen Handel findet man sie mehr und mehr.

Zu einem eigenständigen Gericht werden die Miesmuscheln aus dem Étang de Thau als Moules farcies à la sétoise. Dazu sucht man besonders große Exemplare aus, damit sich das Füllen (frz. farcir) auch lohnt. Als Vorspeise sollte man schon mindestens sechs Muscheln pro Person rechnen. Die Schalen werden geöffnet, ohne sie voneinander zu trennen. Durch eine Vierteldrehung der oberen Schale wird lediglich der Schließmuskel durchtrennt, um ein späteres Öffnen während des Garens zu verhindern.

Aus püriertem Schweine- und Rindfleisch, eingeweichtem Brot und Ei wird eine Farce hergestellt, die mit Knoblauch und Petersilie gewürzt wird.

gefüllte Miesmuscheln

Moules farcies à la sétoise

Das Fleisch kann durch Brät einer feinen Bratwurst ersetzt werden, was das Pürieren erspart. Die damit gefüllten Muscheln werden sorgfältig verschlossen, zwischen den Schalen darf keine Luftblase bleiben. In einem ausreichend großen Topf werden feingehackte Zwiebeln und Knoblauch angeschwitzt und mit passierten Tomaten und Weißwein zu einem dickflüssigen Sud aufgegossen. Hierin garen die Muscheln etwa 20 Minuten.

Zum Auftunken der köstlichen Sauce sollte ausreichend baguette auf dem Tisch sein. Die Kombination des Muschelfleisches mit dem von Schwein und Rind macht den Reiz dieses Gerichtes aus.

Bei der Rouille de seiche à la sétoise verbinden sich die Zutaten der oben beschriebenen Würzcreme mit kleinen Tintenfischen der Art Sepiaofficinalis. Diese werden sepia oder eben seiche genannt. Sie werden in mundgerechte Stücke geschnitten, sehr kleine Exemplare können ganz bleiben. Mit Zwiebel, Knoblauch und Tomatenmark werden sie scharf angebraten. Mit Weißwein aufgegossen ziehen die Kopffüßer gar. 

Tintenfischragout

Rouille de seiche à la sétoise

Der Sud erhält durch die Rouille-Zutaten (oder die fertige Creme) Farbe, pikanten Geschmack und eine leichte Bindung. Der kostbare Safran wird bei dem relativ einfachen Gericht häufig durch spigol ersetzt. Das ist eine Mischung aus Kurkuma und edelsüßem Paprika, die nur zu drei bis fünf Prozent echtes Safranpulver enthält und deshalb relativ günstig überall erhältlich ist. Zu dem Tintenfisch-Ragout passen Salzkartoffeln, die die Sauce gut aufsaugen, oder Tagliatelle.

Schon im 17.Jh. gelangten Fischer aus italienischen Gewässern auf der Suche nach neuen Fischgründen in den Golfe du Lion. Und gegen Ende des 19.Jhs. kamen Italiener vor allem aus dem Lazio im Hafen von Sète an, die Arbeit suchten und oft in den Salinen der Camargue fanden. Sie brachten ein tiella genanntes Gericht aus ihrer Heimat mit, das sie vielleicht sogar als Proviant während ihrer Überfahrt dabei hatten. Es handelt sich um eine Pastete, deren Füllung vor allem aus Meeresgetier besteht (→Gaeta). Die Franzosen fanden schnell Gefallen an der tourte, wie man hier ähnliche Pasteten nennt. Das nutzte ein Einwanderer namens Adrienne Verducci als Geschäftsidee. Er produzierte die tiella als Tielle à la sétoise und verkaufte sie als Fertiggericht, das zuhause, wenn überhaupt,

würzige Pastete

Tielle à la sétoise

nur noch aufgewärmt werden muss. Denn das Gericht schmeckt als Vorspeise auch kalt oder lauwarm.

Zwischen zwei nicht zu dünn ausgerollten Pizza- bzw. Brotteigscheiben (pâte à pain) werden vor allem kleingeschnittene Kopffüßer wie poulpe (Krake), seiche oder calmars (kleine Tintenfische) eingeschlossen, die zuvor in Olivenöl angeschwitzt und mit Tomatensauce gargeschmort wurden. Mit piment, z.B. dem aus →Espelette, wird die Füllung pikant gewürzt. Je nach Anzahl der versammelten Esser gibt es die tielle in verschiedenen Größen. Durch die in Frankreich üblichen tarte-Formen bekommt sie den typischen geriffelten Rand.

Italienischer Einfluss wird auch bei der Macaronade sétoise sichtbar. In Italien nennt man kleine Rouladen aus Rind-, Kalb- oder Schweinefleisch involtini. Franzosen bezeichnen solche Fleischröllchen als paupiettes. Im mittelitalienischen Dialekt des Lazio heißen sie braciole. In Sète hat man den Mundart-Begriff als brageoles übernommen. Dünne Scheiben vom Rinderbug werden mit gehackter Petersilie und Knoblauch aufgerollt, durch ein Holzspießchen fixiert und in pikant abgeschmeckter Tomatensauce geschmort.

Macaronade sétoise -

- italienisches Erbe

Dazu werden normalerweise die Röhrennudeln serviert, die in Italien →maccheroni heißen, woraus sich die okzitanische Form macaronade als Name des Gerichtes ergibt. Die brageoles werden hin und wieder abgewandelt, mal wird etwas Schinken, mal schmelzender Käse mit aufgerollt. Auch bei den Nudeln können andere Formen auf den Teller kommen wie z.B. penne oder spaghetti, die Hauptsache ist, dass sie gut die Sauce aufnehmen.

Über die italienischen maccheroni gibt es auch eine etymologische Verwandtschaft der macaronade mit dem französischen Nationalgebäck →macarons

Auf den innerstädtischen Gewässern, vor allem auf dem Canal Royal, findet jedes Jahr im August ein mehrtägiges Großturnier der joute nautique statt. Bei diesem besonderen Sport steuern zwei Teams von acht bis zehn rameurs (Ruderer) ihre Boote aufeinander zu. Am Heck der barques befinden sich lange Ausleger mit einer kleinen Plattform etwa drei Meter über dem Wasser. Auf dieser steht der mit Lanze und Schild bewaffnete jouteur, der bei der Passage der Boote versucht, sein Gegenüber zu einem unfreiwilligen Bad zu zwingen. Die joute équestre ist eigentlich das mittelalterliche, zu Pferd ausgetragene Turnier, bei dem sich Lanzenreiter gegenseitig aus dem Sattel stießen. Die maritime Variante wird in fast allen Hafenstädten Südfrankreichs ausgeübt (→Martigues), aber auch an den westlichen und nördlichen Küsten sowie in Orten des Landesinneren, die über ein ausreichend

Joute nautique

Fischerstechen

großes Gewässer verfügen. In Deutschland kennt man solche Veranstaltungen als Fischer– oder Schifferstechen. In Neuburg an der Donau, der deutschen Partnerstadt von Sète, gehört das Fischerstechen zum jährlichen Fischergasslerfest. Das große, mehrtägige Turnier in Sète ist schon in Schriften von 1666 belegt. Seit 1743 findet es jeden August als Grand Prix de la Saint-Louis statt und gilt als wichtigstes Ereignis dieser Sportart, manche reden gar von der inoffiziellen Weltmeisterschaft. Zwar wird das spektakuläre Ereignis auch von Touristen gerne besucht, die Akteure selbst betreiben die joute aber durchaus mit sportlichem Ehrgeiz, in verschiedenen Gewichtsklassen und nach festen Regeln. 2014 feierte man die 270. Auflage des Grand Prix, der nach dem zeitgleich gefeierten Stadtfest, der Fête de la Saint-Louis benannt ist.

Georges Brassens

Paul Valéry

Manitas de Plata

Zwei weit über Frankreich hinaus bekannten Söhnen der Stadt ist jeweils ein Museum gewidmet. Der Espace Georges-Brassens (1921-1981) erinnert an einen der größten Vertreter des französischen Chansons, 

und das Musée Paul-Valéry porträtiert den philosophischen Poeten, der 1871 hier geboren wurde. 

Auch der Wohnwagen, in dem der Roma-Gitarrist Ricardo Baliardo 1921 das Licht der Welt erblickte, stand damals in Sète. Wegen seines virtuosen Spiels ist er unter dem Künstlernamen Manitas de Plata (Silberhändchen) berühmt geworden.