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Les Halles de Paris

Les Halles

Als die Tore in den frühen Morgenstunden des 27. Februar 1969 zum letzten Mal schlossen, beendeten sie eine rund 800 Jahre lange, wechselvolle Geschichte:

Die Geschichte der

Hallen von Paris.

Im 12.Jh. ordnete König Philippe Auguste II an, den Handel mit Fleisch, Brot und Gemüse in Paris an einer Stelle zusammenzufassen und ließ hierfür zwei große Hallen errichten.

Ein wesentlicher Vorteil war die bequemere Eintreibung von Steuern und Zöllen, aber auch die Überwachung einheitlicher Maße und Gewichte wurde so erst möglich.

Fontaine des Innocents

Der neue Markt befand sich am Rand der damaligen städtischen Bebauung auf dem rechten Seine-Ufer, in unmittelbarer Nachbarschaft des Cimetière des Innocents, eines Friedhofes, an den heute noch die Fontaine des Innocents südöstlich des modernen Hallenforums erinnert. Aus vielen zeitgenössischen Schilderungen ist zu entnehmen, welch seltsames Leben sich in diesem Nebeneinander entwickelte.

um 1820

Die ständige Erweiterung des Marktes lässt sich noch heute an einigen Straßennamen ablesen. Die rue de la Ferronnerie war der Ort der Eisenwarenhändler, in der rue de la Cossonnerie wurde mit Schweinefleisch (cochon) gehandelt, in der rue de la Lingerie mit Wäsche und Textilien. Fisch und Meeresfrüchte wurden vom Norden her über die rue Montorgueil angeliefert, die in ihrem weiteren Verlauf rue Poissonnière (Fischhändlerin) heißt.

um 1550

Die rue de Coquillière war das Reich der Muschelsucher. Auch die negativen Seiten des Marktgeschehens sind noch heute im Namen der rue de la Grande-Truanderie (große Betrügerei) oder der rue de l’Arbre-Sec (der trockene Baum als Synonym für den Galgen) nachvollziehbar. Inmitten des Trubels gab es wohl auch fromme Prediger, die versuchten, die Moral aufrecht zu erhalten. Zumindest deutet noch heute die kleine rue des Prêcheurs darauf hin. In der Mitte des oben abgebildeten Stichs von 1550 ist eine überdachte Predigtkanzel, ein prêchoir zu sehen.

danse macabre

Anfang des 15.Jhs. wurde die Friedhofsmauer mit Fresken ausgeschmückt, auf denen der Tod allerlei Gestalten des öffentlichen Lebens in’s Jenseits begleitet. Dieser comicartige Danse macabre (Totentanz) wurde bei Arbeiten zur Stadterneuerung im 17.Jh. zerstört, ist aber in Stichen von Guyot Marchant (um 1485) erhalten.

Und wie dieses Teilbild zeigt, sind auch die Vertreter der kirchlichen und weltlichen Macht vor der Abholung durch Gevatter Tod nicht gefeit.

Und direkt nebenan der Friedhof der Unschuldigen, innerhalb des ummauerten Hofes der Église des Innocents. Dort wurden die Leichname nur knapp unter der Oberfläche mit Erde bedeckt, was die Gegend in unerträglichen Verwesungsgestank hüllte. Zusätzlich verstärkt wurde die Luftverpestung durch die Nutzung des Massengrabes für die Abfälle des Marktes. Dessenungeachtet trieben sich um die Kirche und auf dem Friedhof fliegende Händler herum, Prostituierte aus der (bis heute für dieses Gewerbe bekannten) rue St.Denis boten ihre Dienste an, professionelle Schreiber unterhielten hier ihre Büros. Dazu kam, dass die Markthallen und die Wohn- und Geschäftshäuser, die in dem Viertel entstanden, über keinerlei sanitäre Einrichtungen oder gar Kanalisation verfügten, was die engen Gassen mehr und mehr zur Kloake verkommen ließ. Die Händler wuschen ihre zum Verzehr bestimmten Waren in Wasser aus Brunnen, die vom Friedhof her vergiftet waren. Der Brauch, die am arbre sec mitten im Marktgeschehen Hingerichteten zur Abschreckung hängen zu lassen, bis sie praktisch von alleine abfielen, tat ein Übriges, um die Luft rund um den Markt unerträglich werden zu lassen.

Erst Ende des 18.Jhs. wurde auf Geheiß von Napoléon Ier der Cimetière des Innocents als Quelle von Krankheit und Tod geschlossen, die exhumierten Gebeine kann man heute in den Catacombes besichtigen. An der Stelle des Friedhofs entstand zunächst ausgerechnet der Markt für Kräuter und Gemüse! Die Toten brachte man auf neue Friedhöfe wie die von Montmartre, Montparnasse und Père Lachaise. Sie lagen damals noch außerhalb der Stadtmauern, heute bilden sie innerstädtische grüne Ruhezonen.

Die Umgebung des Friedhofs beschreibt Patrick Süskind in seinem Historienroman Das Parfüm als den allerstinkendsten Ort des gesamten Königreichs. Hier lässt er seinen tragischen Helden Grenouille 1783 zur Welt kommen, der selbst über keinerlei eigenen Körpergeruch verfügt und deshalb zum genialen Parfumeur, aber auch zum Mörder wird (→Grasse). Der Säugling fällt bei der Geburt zwischen die stinkenden Fischabfälle unter dem Marktstand seiner Mutter, die sich nicht weiter um ihn kümmert. Und hier, auf dem Cimetière des Innocents, endet auch der Lebenskreis des tragischen Grenouille.

Das lateinischsprachige Motto fluctuat nec mergitur, das bis heute im Stadtwappen unter einem Handelsschiff zu lesen ist, ist seit dem 16.Jh. mit Paris verbunden. Es könnte ganz besonders auch für das alte Hallenviertel gegolten haben: Sie schwankt, aber sie geht nicht unter …!

um 1850

Napoléon Bonaparte und später sein Neffe Napoléon III leiteten weitere Modernisierungen ein. Ab 1854 entstanden die von Victor Baltard entworfenen zwölf schirmförmigen Pavillons aus Eisen und Glas, die als Halles Centrales de Paris das gesamte Stadtviertel geprägt haben. Jede Halle war einem bestimmten Sektor des Lebensmittelangebots gewidmet. Einer der größten Bereiche war der pavillon de la marée für Fisch und Meeresfrüchte, die großenteils auf der Seine von der Nordsee hertransportiert wurden. Eine ganz wichtige Rolle spielte natürlich die zwischenzeitlich installierte Kanalisation.

Sie nahm nicht nur die häuslichen Abwasser auf, sondern auch den Straßendreck, der vor allem im Hallenviertel massenhaft anfiel, von Gemüse- und Schlachtabfällen bis zum Mist der Tiere, die die Waren zum Markt transportierten. Noch heute sind die in regelmäßigen Abständen in die Bordsteine eingelassenen Öffnungen zu erkennen, durch die man den Unrat mit Besen und Wasser nach unten spülte. Lange Zeit wanderte all das nicht etwa in Kläranlagen, sondern direkt in die Seine, die dadurch selbst zur fließenden Kloake wurde. An Fischerei in der einstigen Lebensader der Stadt war da natürlich nicht mehr zu denken.

um 1890

Unzählige Kleingewerbetreibende und Handwerker siedelten sich um die Hallen herum an, jede verfügbare Ecke wurde für mehr oder weniger offizielle Geschäfte genutzt. Für die mittlerweile aus ganz Frankreich anreisenden Händler brauchte man Hotels, sei es für mehrere Nächte oder, zugunsten des entsprechenden Gewerbes, nur für ein paar Stunden.

zum 200. Geburtstag von V. Baltard

Jede Sparte des Handels entwickelte eigene Gebräuche, Kleiderordnungen und sogar besondere Sprachen. Das einzigartige louchébem, eine Art Geheimverständigung, bei der Wortsilben vertauscht und verdreht werden, hat in den Hallen von Paris seinen Ursprung: Aus dem französischen Begriff jargon des bouchers (Sprache der Metzger) wurde largonji des louchébems

largonji des louchébems

Es handelt sich dabei um eine Variante des verlan (Umkehrung von l’envers, Kehrseite), einer Geheimsprache, mit der sich seit dem Mittelalter Angehörige bestimmter Berufsgruppen (oder auch der Unterwelt …) vor ungebetenen Mithörern schützten. Das louchébem ist bis heute unter Fleischern in Paris, Lyon und anderswo in Gebrauch, auch als Synonym für den Berufsstand der bouchers.

les bistrots

Eine eigene gastronomische Kultur zeigt sich in den bistrots, in denen sich alle am Markt beteiligten unterschiedlichsten Menschentypen bei einem café noir oder einer soupe à l’oignon in den frühen Morgenstunden trafen. 

Wenn in diesen Stunden eine Glocke (frz. cloche) das offizielle Ende des Markttreibens verkündete, strömte eine Armada von armen, meist obdachlosen Schluckern herbei, um von den nicht verkauften Resten des Marktes etwas zu ergattern. Die Marktglocke verlieh ihnen die im Volksmund bis heute gebräuchliche Bezeichnung clochard

les clochards

Eine andere Geschichte leitet den Begriff clochard von den Obdachlosen ab, die früher zum Läuten der schweren Glocken der Kathedrale Nôtre-Dame angeheuert und dafür mit einer warmen Mahlzeit und ein paar Stunden in der wettergeschützten Kirche entlohnt wurden.

les forts des halles

Eine besondere Rolle spielte die Gruppe der zuletzt rund 3000 portefaix, der Lastenträger, die sich mit Stolz als les forts des halles (die Starken aus den Hallen) bezeichneten. Neben ihrer eigentlichen Aufgabe, dem Entladen der angelieferten Waren und ihrem Transport zu den Verkaufsständen, fungierten sie aufgrund ihrer meist beeindruckenden Statur als eine Art inoffizieller Sicherheitsdienst, der den Einfluss zwielichtigen Gesindels auf einem erträglichen Maß hielt. 

Zur einschüchtenden Erscheinung der forts trug zudem der coltin bei, der steife Lederhut mit breiter, über die Schultern reichender Krempe, die das Buckeln (frz. coltiner) der schweren Kisten und Säcke erleichterte. Außerdem verhinderte der Hut, dass den Trägern der schweren Schweine- oder Rinderhälften das Blut in den Hemdkragen rann.

Will ein Franzose einem anderen zu verstehen geben, er solle sich nicht in etwas einmischen, das ihn nichts angeht, tut er das schon mal, wie vielleicht so mancher streitende Markthändler, mit einem verächtlichen occupe-toi de tes oignons! (Kümmere dich um deine eigenen Zwiebeln!).

So wie hier die Zwiebeln prägen Begriffe rund um Speis und Trank viele weitere französische Redewendungen und Sprichwörter.

Deutschsprachige Beispiele findest du →hier!

Kunst!

Zahllose →Künstler wurden von der besonderen Atmosphäre der Hallen inspiriert. Eines der bekanntesten Werke ist sicher der Roman Le Ventre de Paris (1873) von Emile Zola, in dem das detailliert beschriebene Leben im und um den Bauch von Paris den Hintergrund für soziale Kritik und Utopie abgibt.

Häufig wurde dieses Leben natürlich auch romantisch verklärt, so z.B. in der Hollywood-Komödie Irma la Douce.

Wohl eine der realistischsten Sichtweisen auf das Leben im Pariser Hallenviertel bieten die unzähligen Aufnahmen des berühmten Photographen Robert Doisneau.

In der ersten Hälfte des 20.Jhs. gelangte der Betrieb des Großmarktes mehr und mehr an seine räumlichen und organisatorischen Grenzen. Der Verkehr der Lieferanten und Händler verstopfte täglich stundenlang die Pariser Straßen weit über das Hallenviertel hinaus. Die Lebensmittel, die aus ganz Frankreich und aus dem Ausland an einem der sieben über das ganze Stadtgebiet verteilten Bahnhöfe ankamen, mussten von dort noch zu den Hallen gebracht werden. Die seinerzeit großzügigen Pavillons von Baltard boten nicht mehr ausreichend Platz für all die Lebensmittel, die zur Versorgung von Paris und der immens angewachsenen Vorstädte in der banlieue notwendig waren.

Die alten Hallen wurden, gegen massive Protesete, abgerissen. Das neue Zentrum aus Büros, Geschäften und unterirdischen Bahnhöfen erinnert nur noch namentlich an die Vergangenheit.

das moderne Forum des Halles

1969 wurde in →Rungis, einem Vorort 15km südlich der Stadtgrenzen, ein neuer Zentralmarkt eröffnet, der nicht nur von mehr Raum und modernerer Ausstattung profitiert, sondern auch von besserer Verkehrsanbindung mit eigenem Bahnhof sowie Autobahnanschluss und dem Flughafen von Orly in direkter Nachbarschaft.

Um die Zukunft der alten 12 Hallen entstand ein langer öffentlicher Streit. Anfangs wurden sie noch für Ausstellungen und andere kulturelle Veranstaltungen genutzt, bis sie eine nach der anderen verschwanden. Nur eine der zwölf Hallen, der Pavillon N°8 für Geflügel und Eier, wurde zum nationalen Kulturgut erklärt und blieb vollständig erhalten. Allerdings nicht am ursprünglichen Ort, sondern in Nogent-sur-Marne östlich von Paris, wo sie 1977 als Kulturzentrum unter dem Namen Pavillon Baltard wiedererrichtet wurde. Von einer weiteren Halle steht am ursprünglichen Ort noch ein Teil, der für wechselnde Ausstellungen dient. Einziges bauliches Überbleibsel des früheren Marktes, das sich aber schon immer architektonisch von den Baltard-Hallen abhob, ist die ehemalige Getreidehalle im Westen des Geländes mit ihrer markanten Kuppel, heute Sitz der Bourse de commerce (Handelsbörse).

Die Veränderungen im gesamten Hallenviertel waren enorm. Ob man das Neue begrüßt oder dem Alten nachtrauert: Sicher zeigt dieser Wandel z.B. im Centre Beaubourg oder in der Gestaltung der damals weltweit größten innerstädtischen Fußgängerzone eine gute Seite.

Negative Folgen wie der Abriss von durchaus erhaltenswerter Bausubstanz und der damit erzwungene Umzug alteingesessener Bewohner in seelenlose Betonklötze in der banlieue manifestieren sich besonders krass am Verlust der atmosphärischen und kulturellen Identität des Viertels. Das hypermoderne, aber seelenlose Forum des Halles erinnert nur im Namen an die Vergangenheit. Die Mischung aus Geschäfts- und Freizeitzentrum sowie unterirdischem Verkehrsknotenpunkt spiegelt die Widersprüchlichkeit der Entwicklung wider.                     

Ein wenig von der kulinarischen Bedeutung der alten Hallen ist noch zu spüren in der rue Montmartre und der benachbarten rue Montorgeuil, wo immer noch Geschäfte mit liebevoll gestalteten Auslagen von Fleisch und Wurst, Fisch und Meeresfrüchten, Bäckerei- und Konditoreiwaren oder Obst und Gemüse um die Gunst der Feinschmecker werben. Dort findet man auch noch das eine oder andere Bistrot, in dem sich, wie vor 1969, früh morgens die Fischverkäuferin und der flic, der Gemüsehändler und die Büroangestellte treffen, um bei einem express und einem croissant, im Plausch mit dem Thekennachbarn oder vertieft in die Zeitungslektüre den Tag zu beginnen.

In 51, rue Montorgeuil befindet sich seit 1730 die Pâtisserie Stohrer. Deren Gründer, Nicolas Stohrer, gilt als Erfinder des →baba au rhum, den man hier natürlich nach dem Originalrezept serviert bekommt.

Ein Mekka für alle Liebhaber von Küchenutensilien ist in unmittelbarer Nachbarschaft das Haus →E.Dehillerin (Ecke rue J.J.Rousseau/rue Coquillière), das seit 1820 vom winzigen Butterpfännchen bis zum 120l-Topf, vom Schneckengäbelchen und dem →Parisiennestecher bis zum schaufelgroßen Schaumlöffel alles bietet, was Profi und Amateur zum Kochen brauchen.