Ulis Culinaria

Norcia

In nur wenigen deutsch-italienischen Wörterbüchern findet man den Begriff norcineria. In der italienischen Umbria, in der Norcia liegt, und in ihren Nachbarregionen sieht man das Schild über Schaufenstern, die mit Himmeln voller Würste und Schinken die Kundschaft anlocken. Allerdings – zumindest traditionell – nur mit solchen Schinken und Würsten, die aus Schweinefleisch hergestellt wurden. Der Begriff norcineria steht dementsprechend in Mittel-Italien als Synonym für die macelleria, die Metzgerei, bzw. für die salumeria, die Wurstmetzgerei, aber eben mit der Beschränkung auf Schweinefleisch.

Das Wort bezieht sich tatsächlich auf die 4.500-Einwohner-Gemeinde Norcia, und das wohl schon seit der römischen Antike. Schon im alten Rom pries man die Schweinewürste und Schinken, die von den norcini aus der Provinz Perugia verkauft wurden. Spätestens seit dem Mittelalter riefen die Familien im Winter den norcino, um das Schwein zu schlachten, das man über das abgelaufene Jahr gefüttert hatte, und es zu haltbaren Würsten und Schinken zu verarbeiten, die über das neue Jahr die Familie ernähren sollten.

Im Mittelalter wurde der norcino, der durch seine Schlachtungen die Anatomie eines Schweines gut kannte, auch gerufen, wenn ein Schwein aus Mastgründen kastriert wurde, oder wenn das Ferkel irgendwelche gesundheitlichen Probleme hatte. Den Beruf des akademisch  ausgebildeten Veterinärs gab es noch lange nicht, und wenn man sich um kranke Tiere kümmerte, betraf es eher Pferde, die bei der Kavallerie dienten oder zumindest Rinder, die auch der Milcherzeugung oder als Arbeitstiere nützlich waren.

Die italienische Sprache erweist dem Schwein allerdings gleich mit drei ebenbürtigen Synonymen alle Ehre: maiale, porco und suino.

Übrigens soll es heute noch ländliche Gegenden geben, wo man zum Ziehen eines schmerzenden Zahns, zum Einrenken eines gebrochenen Arms, zum Herausschneiden eines Furunkels oder wegen anderer menschlicher Wehwehchen lieber den norcino ruft als den – viel teureren! – Hausarzt …

la norcineria

Inbegriff italienischer Metzgerkunst

Die sicher renommierteste Norcineria-Spezialität ist der Prosciutto di Norcia (→IGP 1997), ein Rohschinken von Schweinen, die hauptsächlich mit Eicheln gemästet wurden. Wie alle namhaften Prosciutto-Spezialitäten durchlaufen die Schweinekeulen einen mehrmonatigen Prozess von Salzung, Lagerung und Trocknung, bevor sie mit Brandsiegel und IGP-Etikett in den Verkauf kommen. Obwohl die Umbria, in deren östlichster Ecke Norcia liegt, die einzige küstenlose Region der

Prosciutto di Norcia

italienischen Halbinsel ist, wird auch hier Meersalz als Konservierungsmittel verwendet. Für die Trocknung sorgen die Winde aus den Monti Sibillini, dem bis zu 2.500m hohen Abruzzen-Massiv. Gut zehn Betriebe im Umkreis von wenigen Kilometern um das Stadtzentrum gehören zum →Consorzio di tutela del Prosciutto di Norcia IGP, das die Produktion der Schinken nach den vorgegebenen Richtlinien überwacht und die entsprechende Qualität garantiert.

Salame nursino

In einer norcineria kann man z.B. eine Salame nursino (*) erstehen, eine feinkörnige, nur aus magerem Schweinefleisch hergestellte Hartwurst. 

Norciuscolo

Oder einen Norciuscolo, eine feine Streichmettwurst, die hervorragend auf geröstetem Weißbrot als bruschetta mundet.

(*)   Eine alte Form des Stadtnamens lautet Nursia. Hier wurde der Heilige Benedikt von Nursia geboren, Gründer des Benediktiner-Ordens.

Das Wort norcino hat im Volksmund allerdings nicht nur positive Bedeutung:

So wie man einen schlechten Chirurgen im Deutschen schon mal als Metzger beschimpft, tut man das Gleiche in Italien mit einem verächtlichen

che norcino!

Mit dem lokalen Vorkommen des Tartufo nero konkurriert Norcia unentwegt (und unentschieden) mit der weißen Edelknolle Tuber magnatum aus →Alba. Trüffel wachsen, wie praktisch alle Waldpilze, in Symbiose mit Bäumen. Je nach Baumart variieren Farbe und Geschmack. In den Wäldern um Norcia, zwischen 500 und 700m Meershöhe, bekommen die schwarzen Knollen mitunter leichte Süße, weshalb man sie auch tartufo dolce nennt. Norcia nimmt für die schwarze Trüffel in Italien eine so wichtige Rolle ein wie das Périgord in Frankreich (→Périgueux). Im Deutschen werden schwarze Trüffel als Périgord-Trüffel zusammengefasst, während man die weiße Schwester generell als Piemont-Trüffel bezeichnet.

Tartufo Nero di Norcia

Jedenfalls sind die Spaghetti alla norcina mit Knoblauch, Sardellen und frisch darübergehobeltem tartufo nero ein Genuss, der sich vor nichts zu verstecken braucht.

blühende Linsenfelder bei Castelluccio

Lenticchia di Castelluccio di Norcia

Auf fast 1500m Meereshöhe liegt über Norcia der Ortsteil Castelluccio. Dort, im Parco Nazionale dei Monti Sibillini, wird die Lenticchia di Castelluccio di NorciaIGP angebaut, eine Linsensorte mit mehreren Farbvarianten in Blüte und Samenkern. Während der Linsenblüte im Frühsommer verwandelt sich die Hochebene in einen bunten Flickenteppich. Der europäische Anbau von Lens culinaris spielt im Weltmaßstab eine unbedeutende Rolle. Dennoch haben sich, wie hier, kleine geografische Nischen erhalten, in denen Linsen mit besonderer Qualität geerntet werden. In Frankreich ist →Le Puy-en-Velay für seine grüne Linsenvarietät berühmt.