Wenn man über den annähernd runden Stadtplan von Paris ein Ziffernblatt legt, findet man bei Drei Uhr die Porte de Montreuil, eines der vielen Tore in der letzten großen Stadtmauer von Paris. Heute ist die Kernstadt von der Métropole du Grand Paris, zu der die 110.000-Einwohner-Gemeinde Montreuil (Département Seine-Saint-Denis) zählt, nur durch die Ringautobahn Périphérique getrennt.
Bis in die erste Hälfte des 20.Jhs. war Montreuil noch stark landwirtschaftlich geprägt und trug, wie die gesamte Île-de-France, zur Ernährungsvielfalt der Hauptstadt bei, wie sie sich besonders in →Les Halles zeigte. Der große französische Schriftsteller Émile Zola hat in seinem Roman Le Ventre de Paris den Bauch von Paris zum Schauplatz der gesellschaftlichen Konflikte im Frankreich des 19.Jhs. gemacht. Trotz der dramatischen Handlung beschreibt Zola an vielen Stellen das Marktleben so impressionistisch bildhaft, dass man beim Lesen meint, das Stimmengewirr zu hören, den Duft von Käse, Fisch und Früchten zu riechen und das Meer der Farben zu sehen.
Und eine Frucht hebt er besonders hervor: … les pêches surtout, les Montreuil rougissantes, de peau fine et claire comme les filles du Nord … (vor allem die Pfirsiche, die rötlichen aus Montreuil, mit einer Haut, so zart und hell wie die Mädchen aus dem Norden).
Tatsächlich brauchen die Früchte des Prunus persica, des Pfirsichbaums, milde Temperaturen und viel Sonne, um zu voller Reife und Geschmack zu gelangen. Nicht umsonst haben die Botaniker den Namen Persische Frucht gewählt! Da schon im 17.Jh. besonders der Königshof die edlen Früchte verlangte, transportierte man sie aus dem Süden des Reiches nach Paris, wo aber wegen der Stoßempfindlichkeit und der kurzen Haltbarkeit oft nur noch ein Bruchteil der Lieferung in genießbarem Zustand ankam. Die Obstbauern von Montreuil kamen in dieser Zeit auf eine geniale Idee, die ihre Kollegen in →Thomery wenig später auf den Anbau von Tafeltrauben anwandten. Andere sagen, es seien schon viel früher die Mönche eines Klosters gewesen, von dem allerdings heute nichts mehr zu sehen ist. Aber der Ortsname geht immerhin auf den lateinischen Begriff monasteriolum zurück, kleines Kloster.
Aus Naturstein errichtete man Mauern, an deren Fuß Pfirsich-Setzlinge gepflanzt wurden. Die Äste und Zweige zog man mit schonenden Leinenbändern dicht an der Wand als Spalier nach oben. Der Stein speicherte tagsüber die Sonnenenergie und gab sie nachts langsam an die Früchte ab. Zudem reflektierte das helle Mauerwerk das Licht, sodass die Pfirsiche fast ein Rundum-Sonnenbad genossen. Die Mauerkrone war mit Tonziegeln geschützt, zusätzlich konnten bei drohendem Unwetter vor Hagelschlag schützende Bedachungen und Schilfvorhänge montiert werden. Bei einer Mauerhöhe von rund 2,8m ließen sich die Bäume recht bequem bearbeiten und die reifen Pfirsiche ebenso gut ernten.
Die Mauern bildeten auf rund 320ha – etwa ein Drittel des Gemeindegebiets von Montreuil! – ein Gewirr von abgeschlossenen Gärten, wie im französischen Weinbau clos (*) genannt. Zur Blütezeit dieses speziellen Obstanbaus in der Mitte des 19.Jhs. brachten es die murs à pêches de Montreuil immerhin auf eine Gesamtlänge von etwa 300km. Die überwiegend beidseitige Bepflanzung ergab also annähernd 600km Spalier.
(*) Vor allem in der Bourgogne findet man von Mauern umschlossene Weinberge, deren Namen meist auf die Gesamtproduktion des château, des Weingutes angewandt wird. Am bekanntesten ist sicher das Château du Clos de Vougeot. Dort werden zwar die Reben nicht an den Mauern als Spalier hochgezogen, aber der clos bewirkt ein windgeschütztes, relativ mildes Mikroklima, wie der Weinbauer es gerne hat.
Clos ist von clôture abgeleitet, was Einfriedung oder Umzäunung (z.B. eines Gartens) bezeichnet. Ein kleiner clos (ausgesprochen: klo) wäre in der französischen Verkleinerungsform ein closet (klo-se mit Betonung auf se).
Unter der eingedeutschen Schreibweise Klosett, ebenfalls auf der zweiten Silbe betont, verstehen wir ja auch einen kleinen, von (blickabweisenden!) Wänden umgebenen Raum, der uns die ungestörte Verrichtung höchst privater Geschäfte ermöglicht. Und umgangssprachlich reden wir dann vom Klo, das wieder wie der französische clos klingt …
Aber schon von Anfang an waren die Pêches de Montreuil ein voller Erfolg. Der Sonnenkönig Louis XIV warb sogar Gärtner aus Montreuil ab, um in seinem Gemüsegarten, dem potager du roi in Versailles, die Kunst der sonnenverwöhnten Obstspaliere anzuwenden.
Der Ausbau des damals neuen Eisenbahn-Netzes ermöglichte gegen Ende des 19.Jhs. sogar den Verkauf an zahlungskräftige Kundschaft in anderen Ländern. Dazu zählten das russische Zarenhaus ebenso wie das britische Königtum unter Queen →Victoria. Zu Ehren ihres Sohnes →Edward, der sich gerne in Paris vergnügte, nannte man eine in Montreuil gezüchtete Pfirsichsorte Prince of Wales. Auch andere bis heute beliebte Sorten wie Téton de →Vénus entstanden in den Clos de Murs.
Die Eisenbahn, die zunächst diesen Aufschwung brachte, führte aber auch maßgeblich zum Niedergang der Pfirsichkultur in Montreuil bei. Denn nun konnten die viel preiswerter produzierten Früchte aus dem Süden des Landes und anderen Regionen am sonnenverwöhnten Mittelmeer schnell und rentabel nach Norden – und natürlich auch in die Halles de Paris – gebracht werden. Zudem waren sie einige Wochen früher auf dem Markt.
Dazu kam, dass das Anwachsen der Banlieue von Paris nach Baugrund verlangte. Die Grundstückspreise stiegen sprunghaft, sodass die Pfirsichgärtner durch den Verkauf ihres Clos an eine Baugesellschaft mehr Geld erhielten, als sie mit den Pfirsichen jemals hätten verdienen können. Übriggeblieben waren irgendwann nur wenige Kilometer der Pfirsichmauern, und diese befanden sich mangels Pflege in erbärmlichem Zustand.
Nach dem 2. Weltkrieg begannen engagierte BürgerInnen, sich für den Erhalt möglichst vieler Pfirsichmauern einzusetzen. 1994 gründete sich die Association Murs à Pêches, (→MAP). Gegen die Interessen von Immobilienspekulation und Bauwirtschaft gelang es, zunehmend auch mit Unterstützung der lokalen Politik, das öffentliche Bewusstsein für den Erhalt bzw. für eine Wiederbelebung der murs à pêches zu wecken. Drei restaurierte Clos wurden 2019 vom ministère de la Culture als jardins remarquables (beachtenswerte Gärten) und ein Jahr später von der Regionalverwaltung der Île-de-France als patrimoine d’ìnterêt régional (Kulturerbe von regionalem Interesse) anerkannt. Und neben den privaten Spenden fließen inzwischen auch öffentliche Gelder in das Projekt, im Haushalt der Gemeindeverwaltung von Montreuil sind 1,5Mio. € bis 2025 veranschlagt.
Die offizielle →Webseite der Kommune stellt die Clos à Pêches nicht nur stolz als touristische Attraktion dar, sondern verweist auch nachdrücklich auf den städtebaulichen Wert der Gärten als grüne Lunge und Naherholungs-Oase mitten in der Betonwüste der Pariser Banlieue.
Zum dauerhaften und finanzierbaren Erhalt der traditionsreichen Pfirsichgärten ist geplant, zumindest einen Teil als jardins familiaux (Familiengärten) bzw. jardins ouvriers (Arbeitergärten) zu verpachten – das französische Pendant zu den deutschen Schrebergärten.