Ulis Culinaria

Mont-Saint-Michel

Der markante, knapp 100m hohe Felsen in der Mündung des Couesnou in den Ärmelkanal (manche) mit der namengebenden Benediktiner-Abtei gehört seit 1979 zum UNESCO-Weltkulturerbe und steht auf Platz drei der meistbesuchten Sehenswürdigkeiten Frankreichs (nach tour Eiffel und château de Versailles).

Feinschmecker interessieren sich hier vor allem für zwei Spezialitäten.

Prés Salés du Mont Saint-Michel

Zum einen die hier grévins genannten Lämmer der Schafrasse Rouge de la Hague. Diese schwarzköpfigen, ansonsten hellen Vertreter des Hausschafes Ovis gmelini aries grasen auf den bei jeder Flut, also etwa alle 12 Stunden, überschwemmten und deshalb jod-, mineral- und salzhaltigen Weiden. Das verleiht dem als Prés Salés du Mont-Saint-Michel im Handel (seit 2013 AOP) angebotenen Fleisch einen einzigartigen Geschmack (frz. pré salé, salzige Wiese).

Hin und wieder wird auf deutschsprachigen Etiketten und selbst in Kochbüchern oder Reiseführern der französische Begriff prés salés für die Salzwiesen zu présalé zusammengezogen und mit vorgesalzen oder direkt mit Salzlamm übersetzt. Natürlich stimmt das ja in gewisser Hinsicht auch: immerhin heißt pré nicht nur Wiese, sondern ist auch die französische Form der lateinischen Vorsilbe prae für vor. Es könnte aber doch so missverstanden werden, als würde das Fleisch zwar vor dem Verkauf, aber erst nach dem Schlachten mit Salz behandelt. Das wäre ja schon eine Form von →Pökelung.

Die Salzwiesen, auf denen sich die Schafe schon beim Grasen mit dem Mineral versorgen, findet man an vielen europäischen Küsten, beispielsweise auch im Bereich des deutschen Wattenmeeres. Die Salzwiesen um den Mont-Saint-Michel sind mit rund 4000ha in Europa das größte zusammenhängende derartige Land zwischen Ebbe und Flut.

In der Camargue und anderen Mittelmeergebieten kennt man die marais salés, wörtlich salzige Sümpfe. Dort fehlt allerdings der deutliche Wechsel zwischen Ebbe und Flut.

Moules de Bouchot de la Baie du Mont Saint-Michel

Und zum zweiten schätzen Gourmets die bereits seit dem Mittelalter an allen Atlantikküsten Frankreichs angewandte Methode der mytiliculture, der Miesmuschelzucht (wissenschaftlich heißen die hiesigen Miesmuscheln Mytilus edulis). Lange Hanfseile werden am Meeresgrund ausgelegt, bis sich an ihnen nach etwa zwei Monaten winzige Muschellarven festgesetzt haben. Die Seile werden eingeholt und spiralförmig um 6 bis 10m lange Pfähle (bouchots genannt) aus Eichen- oder Kastanienholz gewunden, die zur Hälfte in den schlickigen Grund der den Klosterberg umgebenden Bucht (baie) gerammt wurden.

Damit die nun heranwachsenden Miesmuscheln (moules) durch die starken Tide-Strömungen nicht mitgerissen werden, stülpt man über jeden der Bouchots einen Netzschlauch. Nach einem knappen Jahr sind die Muscheln ausgewachsen und können geerntet werden, indem man die nun prall gefüllten Netzschläuche von den Pfählen abzieht. Die in der Bucht erhebliche Tide bietet den Muscheln den für ihr Gedeihen notwendigen Wechsel zwischen Überflutung und Trockenfallen. Zum Verkauf werden die moules gewaschen, die Barten, die Fäden, mit denen sie sich an den Bouchots festgesetzt hatten, werden abgezogen. Jetzt stehen die Schalentiere bereit für die gesamte kulinarische Vielfalt, die in ihnen steckt, und von der auch dieses Lexikon einige Beispiele präsentiert. 

Ein für die unzähligen Touristen gebauter Damm vom Festland zur Insel drohte, die Bucht versanden zu lassen, was die Muschelzucht natürlich gefährdete. Derzeit werden alte Pläne umgesetzt, diesen Damm durch eine Stelzenbrücke zu ersetzen, um den ungestörten Austausch von Ebbe und Flut wieder zu ermöglichen.

Muschelbänke

Erst im Juni 2011 wurde diese uralte Muschelkultur namentlich geschützt, indem die Moules de Bouchot de la Baie du Mont-Saint-Michel ein →AOP-Siegel erhielten. Eine andere für moules de bouchot bekannte Region ist die Küste der Charente um →La Rochelle mit der Île de Ré und der Île d’Oléron. An diesen Küstenabschnitten geben die akkurat zu teils riesigen Muschelfarmen aufgereihten Bouchots der Gezeitenlandschaft eine ganz eigene Struktur.

Zur Entstehung der Bouchot-Kulturen erzählt man in den atlantischen Küstengebieten Frankreichs die Geschichte von einem Seefahrer, der sich nach einem Schiffbruch im 13.Jh. als einziger Überlebender auf eine kleine Insel weit vor der Küste retten konnte. Im Treibgut aus dem zerschellten Schiff habe er ein paar Fischernetze gefunden. Diese habe er, um damit Seevögel als fleischliche Kost zu fangen, zwischen Schiffsplanken aufgespannt, die er in den flachen Meeresboden gerammt hatte. Ob die Vogelausbeute erfolgreich war, ist nicht überliefert. Aber an den Pfählen sollen sich mit der Zeit so viele Muscheln festgesetzt haben, dass sie den armen Kerl ernähren konnten.