Der Étang de Berre ist mit einer Ausdehnung von rund 16 x 20km der zweitgrößte Salzwassersee Europas nach dem Mar menor in Spanien (→Torre Pachego). Er liegt am Ostrand der Camargue, etwa 10km nordwestlich von Marseille. Der See ist durch den Wasseranstieg nach der letzten Eiszeit entstanden. Er ist vom offenen Meer durch eine etwa 10km breite Landbrücke getrennt, die nur durch den Canal de Caronte im Westen durchbrochen wird. Funde von Pfahlbau-Überresten lassen auf eine Besiedelung der Seeufer schon vor bis zu 10.000 Jahren schließen.
Am Lagunenzugang des Caronte-Kanals liegt Martigues, an der Seeseite befindet sich das Hafenstädtchen Port-de-Bouc. Durch diese Verbindung strömt Salzwasser vom Golfe du Lion herein, während ein paar Flüsschen vom Norden her Süßwasser liefern. Seit der römischen Antike wird dieses Süßwasser zum Anbau von Gemüse, Wein und Olivenbäumen auf den fruchtbaren Böden um die Lagune genutzt. Ebenfalls lange Tradition hat die Fischerei, die die Menschen mit brackwasserliebenden Fischen, Krustentieren und Muscheln versorgte.
Die Römer haben auch die in der gesamten Camargue angewandte Technik perfektioniert, aus dem Brackwasser durch Verdunstung in salins, flachen Becken, sel de mer zu gewinnen (→Aigues-Mortes). Meersalz wird heute noch im und um den Étang de Berre produziert. Landwirtschaft, Fischerei und Muschelzucht dagegen haben in der Vergangenheit unter der zunehmenden industriellen Nutzung der Gegend gelitten. Erdölraffinerien haben sich ab dem frühen 20.Jh. hier angesiedelt, der Tankerverkehr und die Einleitung von Abwasser haben schwere Schäden verursacht.
1957 wurde die Fischerei wegen der Anreicherung von Schwermetallen und anderen Schadstoffen im Fleisch der Meerestiere gar per Gesetz verboten. 1920 entstand am Ostufer der Aéroport Marseille-Provence und wurde seitdem mehrmals erweitert. Bei Saint-Chamas im Norden verbindet der Canal EDF die Lagune mit der Durance zum Zweck der Stromerzeugung durch Wasserkraft. Der damit vebundene verstärkte Zustrom von Süßwasser hat nicht nur die Salzgewinnung eingeschränkt, sondern das gesamte Ökosystem der Lagune massiv verändert. Seit den 1990er Jahren gibt es gewaltige Anstrengungen, dem Étang de Berre wieder zu mehr Lebensqualität zu verhelfen, was gegenüber den industriellen Interessen kein leichtes Unterfangen ist.
Auch deshalb sollten tradierte Bräuche, die in den Fischerstädtchen rund um die Lagune, so auch in Martigues, hochgehalten werden, nicht als nostalgische Folklore abgetan werden. Sie drücken durchaus den Willen der Menschen aus, ihren Lebensraum wieder umweltgerecht nutzen zu können.
Die Fischerei ist zwar nach wie vor auf die Küsten des Mittelmeeres beschränkt, aber die Hoffnung, die Netzte auch im Étang irgendwann wieder auslegen zu können, wächst. Obwohl große Teile des Umlandes von Martigues von Industrieanlagen geprägt sind, hat sich der Kern des 40.000-Einwohner-Städtchens ein historisches Ambiente bewahrt. Der Canal de Caronte ist die zentrale Achse, deren Wasser stellenweise bis direkt an die Gebäude plätschert. Nicht umsonst wird Martigues als Venise de la Provence tituliert. Die Fassaden der schmucken Häuser am Kanal erinnern tatsächlich manchmal an die palazzi von Venedig. So wird auch der hier produzierte, zur AOC Coteaux d’Aix-en-Provence gehörende Wein als La Venise Provençale etikettiert.
Zu den Bräuchen aus der Fischereitradition gehört die joute nautique, die jährlich auf den Kanälen in Martinique ausgetragen wird. Diese Form des Fischer- oder Schifferstechens, wie das Spektakel im Deutschen genannt wird, ist natürlich auch eine touristische Attraktion. Aber das große mehrtägige Joute-Turnier, das alljährlich in →Sète als südfranzösische Meisterschaft stattfindet, zeigt durchaus die sportliche Ernsthaftigkeit, mit der sich die Bootsbesatzungen der zahlreichen Fischereiorte hier messen.
Eine kulinarische Spezialität von Martigues beruht auf einem Fisch namens mulet, im provençalischen Dialekt muge genannt. Als mulet bezeichnen Franzosen eigentlich den Maulesel, der meist wegen seines relativen großen Kopfes auffällt. Wohl wegen dieser Eigenschaft hat man den Mugil cephalus mit dem gleichen Namen bedacht, der zweite Teil des Zoologen-Lateins bedeutet Kopf. Deutsche Angler fangen ihn als Großkopfmeeräsche. Dieser Fisch kommt sowohl mit Meerwasser als auch mit dem weniger salzhaltigen Lagunenwasser sowie mit Süßwasser gut zurecht und wurde zahlreich im Étang de Berre gefangen. In Martigues ist man aber nicht nur auf das Fleisch des Fisches aus. Die weiblichen Tiere bilden als Rogner einen länglichen, zweigeteilten Rogensack aus, der bei einem 1kg schweren Rogner kurz vor dem Laichen mit bis zu 150g der roten Fischeier gefüllt ist. Dieser Rogensack wird im Ganzen entnommen, mit Salz eingerieben und zum Trocknen leicht gepresst. Das anschließende Aufbringen einer dünnen Wachsschicht erhöht zusätzlich die Haltbarkeit.
Das Produkt wird als Caviar Martégal oder Poutargue de Martigues angeboten. Die namentliche Anlehnung an den Kaviar vom Stör ist angesichts der Preise, die man für die poutargue bezahlt, nachvollziehbar (2017: zw. 160 und 240 €/kg). Aber der Genuss von dünnen Scheibchen der zart cremigen Delikatesse, einfach mit ein paar Tröpfchen Olivenöl und Zitronensaft benetzt und zu einem Glas trockenen Weißweins serviert, ist jeden Cent wert. Auch weitere Zubereitungen, ob als Salatbeigabe, zu frischen Nudeln oder in Rührei, lassen den angenehm mild fischigen Geschmack gut zur Geltung kommen.
Wie etliche andere mediterrane kulinarische Spezialitäten hat auch die Poutargue ihre Wurzeln in Nordafrika. Im Arabischen nennt man das Konservieren mit Salz batarikh, gesalzener und getrockneter Rogen (meist von der Meeräsche, aber auch vom Roten
Thunfisch Thunnus thynnus) heißt butarkha oder bitarikha. Im occitan wurde daraus boutargo, auf französisch schließlich boutargue oder poutargue.
Ganz ähnliche Produkte kennt man in Italien als bottarga (→Favignana, Marzamemi), auf der iberischen Halbinsel heißen sie botarga. Der Rogen der Meeräsche wird in Griechenland gerne als tarama zubereitet. Die feinkörnigen, roten frischen Fischeier vereinen sich dabei mit Milch, Zitronensaft und Olivenöl zu einer grell rosafarbenen Creme, die zur typisch griechischen Vorspeisenauswahl, den mezedes gehört.