Ulis Culinaria

Kiew

Z U R   A K T U E L L E N   L A G E

Den Text dieses Artikels habe ich vor Beginn des Angriffs Russlands auf die Ukraine verfasst.

Selbstverständlich habe ich, wie wohl die meisten politisch denkenden Menschen, zu diesem völkerrechtswidrigen Krieg (gibt es auch völkerrechtsgemäße Kriege?!) eine dezidierte Meinung. Ich will aber beim Thema dieses Lexikons bleiben. Deshalb nur ein naiver, aber doch wünschenswerter Gedanke:

Wie schön wäre es, wenn sich der Wettstreit zwischen Völkern darauf beschränken würde, friedlich auszuprobieren, wer in allen Schönen Künsten (zu denen ich auch die Kochkunst zähle) das Beste zu bieten hat.

Das folgende Gericht könnte dafür ein Beispiel sein!

Die Küche in der Stadt der goldenen Kuppeln mit dem berühmten Höhlenkloster spiegelt in ihrer Vielfalt die wechselhafte Geschichte sowie die geografische Lage der Ukraine wider. Das flächenmäßig zweitgrößte Land Europas entspricht zwar im Wesentlichen der mittelalterlichen Kiewer Rus, ist aber erst seit 1991 ein souveräner Staat. Vom Südwesten kamen Küchengewohnheiten des Balkan, und der Fischreichtum des Schwarzen Meeres im Süden ist genauso spürbar wie die nordöstliche slawische Küche mit unzähligen Suppenvariationen und der ausgiebigen Verwendung von Sahne und Butter.

Kotlety po-Kiewski

Mit dem Namen der ukrainischen Hauptstadt wird international das folgende Gericht verbunden:

Als Kotlety po-Kiewski, Koteletts à la Kiew, werden mit Kräuterbutter gefüllte, panierte und schließlich fritierte Hühnerbrüstchen aufgetischt.

Während die Ukraine darauf beharrt, das Rezept für das Котлета по-київськи sei in einem Restaurant in ihrer Hauptstadt erfunden worden, behaupten russische Küchenhistoriker, das Котлета по-киевски sei schon vor der Oktoberrevolution von 1917 den Gästen eines Nobelrestaurants in Sankt Petersburg serviert worden. Heute gehört das Gericht jedenfalls zum gastronomischen Standardrepertoire beider Länder – aber immer mit dem Namen Kiews.

Das Hähnchenbrustfilet wird enthäutet und zu einer Tasche aufgeschnitten. Alternativ hierzu kann man das Filet leicht plattieren und die Butter darin einrollen. Diese wird im Original mit frisch gehacktem Dill vermengt, es schmeckt aber auch gut mit einer bunten Mischung aus Kräutern und Knoblauch. Auf jeden Fall muss die Butter eiskalt sein, also schon jetzt nach Anzahl der Brustfilets aufteilen, zu Röllchen formen und ab ins Gefrierfach, am Besten über Nacht! Die Filets werden dann mit den gefrorenen Röllchen gefüllt, gut verschlossen und nochmals eine Weile runtergekühlt. Dann folgt die klassische Panierstraße mit Mehl, verquirltem Ei und Paniermehl bzw. Semmelbröseln. Wer die Panierung etwas dicker mag, kann den Durchlauf ein-, zweimal wiederholen.

In das heiße Fritieröl kommen die Koteletts erst kurz vor dem Servieren. Während die Panierung Farbe annimmt, taut die Butter langsam auf. Und, gerade erst geschmolzen, soll sie beim Anschneiden auf dem Teller durch die goldbraune, knusprige Panier-Hülle herauslaufen und die Sauce darstellen.

Es braucht etwas Fingerspitzengefühl, um die Balance zwischen dem für Geflügel (wegen der  Salmonellen!) dringend empfohlenen Durchgaren und einem noch erkennbaren Butterkern hinzubekommen.

Traditionell bleibt der Flügelknochen, wie die Rippe bei einem Kalbs- oder Schweinekotelett, am Fleisch und dient als Griff zum Aus-der-Hand-Essen. Da dies allerdings das Schneiden der Tasche erschwert, wird der Knochen oft entfernt. Und bei fertig filetierten Geflügelbrüstchen ist er ohnehin nicht mehr da.

Wenn die Portion etwas größer ausfallen soll, nimmt man das Brustfilet einer Poularde.

Oder man bereitet das Kiewer Kotelett aus dem Suprême des Huhns zu, der Einheit aus Brustfilet und Schlegel.

Schon der russische Schriftsteller Alexander Puschkin hat in einem Brief von einem ähnlichen Gericht geschwärmt, das nach dem angeblichen Erfinder →Pozharskij-Kotelett genannt wird. Hierfür wird Hühnerfleisch durch den Fleischwolf gedreht und mit Ei, gehackter Zwiebel, eingeweichtem Brötchen und Gewürzen zu einem lockeren Teig vermengt. Daraus formt man Frikadellen in Form eines kleinen Koteletts. Neben der Verwendung von Geflügel bestehen weitere Gemeinsamkeiten mit dem Kiewer Kotelett: in das geformte Hackfleisch steckt man als Griff den gesäuberten Knochen eines Hähnchenschlegels, und vor dem knusprigen Ausbraten durchläuft es ebenfalls die Panierstraße.

Erst Mitte des vergangenen Jahrhunderts eroberte die Kiewer Torte die Herzen der Café-Besucher weit über die Ukraine hinaus, besonders in den Bruderstaaten der UdSSR.

Wie bei so mancher anderen kulinarischen Erfindung soll auch hier ein Fehler zu Grunde gelegen haben: Ein unbekannter Konditor hatte wohl bei der Zubereitung die Reihenfolge und die Mengenverhältnisse für eine Biskuitmasse etwas durcheinandergebracht. Das Ergebnis war ein Mittelding aus klassischem Biskuit und einem Baiser bzw. Meringue. Sehr viel steif geschlagenes Eiklar wird mit relativ wenig Mehl, dafür umso mehr Zucker und vor allem viel gemahlenen Haselnüssen verrührt und zu zwei Böden gebacken. Diese werden mit einer dicken Schicht vanillierter Buttercreme aufeinandergesetzt und die Oberfläche mit der gleichen Creme, aber nun mit Kakao schokoladenbraun gefärbt, bestrichen. 

Kiewer Torte

Das bunte Dekor, das manche Konditoreien der Torte schließlich mit dem Spritzbeutel verpassen, ist rein optische Geschmackssache …

Die Kiewer Torte gibt es auch, statt der Haselnüsse, mit Cashew-Kernen oder anderen Nüssen. Jedenfalls hat sie den Zerfall der UdSSR überlebt und gehört in vielen Ländern des früheren Ostblocks nach wie vor zum Standardangebot der Cafés und Konditoreien.