Ulis Culinaria

Frankfurter Küche

In den 1920er Jahren legte die Stadt Frankfurt ein großes Wohnungsbauprogramm auf, das dem raschen Wachstum der Stadtbevölkerung als Folge der zunehmenden Landflucht Rechnung tragen sollte.

Eine Herausforderung für die Planer bestand in der bestmöglichen Nutzung des vorgesehenen Wohnraumvolumens. So sollte auch die Küche als wichtigster Funktionsraum optimiert werden. Mit der Planung des Küchenbereiches wurde die Wiener Architektin Margarete Schütte-Lihotzky beauftragt. Sie legte 1926 den ersten Plan einer Kücheneinrichtung vor, die als

Frankfurter Küche

in die Architektur- bzw. Designgeschichte einging.

die Küche:

steriler Arbeitsraum oder

gemütlicher Treffpunkt für Familie und Freunde?

Schütte-Lihotzky orientierte sich an einer Neuerung, die einige Jahre zuvor in der immer stärker industrialisierten Arbeitswelt eingeführt worden war:

Einzelne Arbeitsabläufe wurden mit der Stoppuhr exakt vermessen und ergonomische Erfordernisse des Arbeitsplatzes bis ins Detail erfasst mit dem Ziel, die Zeiten für die Herstellung industrieller Produkte zu verkürzen und somit den gesamten Produktionsprozess zu effektivieren. 1924 wurde der Reichsausschuss für Arbeitszeitermittlung gegründet. Unter dem Kürzel REFA wurde die Methode derart auf die Spitze getrieben, dass vielerorts die Menschen sich dem Arbeitstakt von Maschinen anpassen mussten. Und deren Tempo wurde nicht an der Gesundheit der ArbeiterInnen bemessen, sondern an der Maximierung der Gewinne.

Charlie Chaplin reagierte mit seinem Stummfilm Modern Times 1936 auf diese Entwicklung. Bei der tragisch-komischen Darstellung des Stresses, dem die Hauptfigur in der immer schneller getakteten Arbeitswelt ausgesetzt ist, bleibt einem das Lachen über die bei Chaplin typischen Slapsticks gelegentlich im Hals stecken!

Die Ergebnisse dieser Untersuchungen wandte Schütte-Lihotzky auf ihre Küchenplanung an, indem sie einzelne Arbeitsbereiche wie z.B. Kochen und Spülen räumlich entsprechend ihrer zeitlichen Reihenfolge anordnete.

Gezwungen von der vorgegebenen Enge des Küchenraumes (Normmaß 3,4m x 1,9m), aber auch in der Absicht, der Hausfrau (ein in der heimischen Küche tätiger Hausmann war damals noch undenkbar!) unnötige Schritte und Bewegungen zu ersparen, komprimierte sie alle Arbeitsabläufe auf kleinstem Raum. Im Grundriss sind die wichtigsten Gehwege gestrichelt markiert.

die Frankfurter Küche

Typischer Grundriss einer Frankfurter Küche

Ein noch heute gültiges Prinzip wurde so die Zusammenfassung von früher an Herd, Küchentisch und Waschbecken getrennt angeordneten Tätigkeiten auf einer durchgehenden Arbeitsplatte.

Der stark beschränkte Raum erlaubte nicht mehr das Aufstellen mehrerer Einzelmöbel wie Küchenschrank, großem Arbeits- und Esstisch, Anrichte, einzelstehendem Herd usw. Dementsprechend war das Ziel, deren Funktionen möglichst kompakt in oder unter der verbindenden Arbeitsplatte unterzubringen.

So entstanden als Unterbau- bzw. Hängeschränke einzelne, modular gestaltete Möbelelemente, in denen z.B. die charakteristischen, mit einem Handgriff erreichbaren Schütten für Kochzutaten wie Mehl, Zucker usw. untergebracht waren. Ein in die Arbeitplatte eingelassenes Loch erlaubte das Zwischenlagern von Küchenabfällen in einem darunter platzierten Behälter ohne Gang zum Mülleimer. Handbetriebene oder auch schon erste elektrische Küchengeräte konnten mit wenigen Handgriffen aus den Unterschränken entnommen und an der Arbeitsplatte befestigt werden, sogar ein ausziehbares Bügelbrett war integriert. 

Der Herd stand nicht mehr einzeln, sondern wurde dank isolierter Seitenwände zum integralen Bestandteil der gesamten Kücheneinrichtung.

Die Frankfurter Küche war geplant für Haushalte der Arbeiterschicht und des breiten Bürgertums, in denen kein Haus- bzw. Küchenpersonal zur Verfügung stand und sollte somit auch die Doppelbelastung der Frau als berufstätige Verdienerin einerseits und Hausfrau andererseits verringern.

 

Die heute bekannte Einbauküche mit den modularen Möbelelementen und der verbindenden Arbeitsplatte ist also eigentlich eine immer weiter entwickelte Nachfolgerin des von Margarete Schütte-Lihotzky entworfenen Konzeptes.

Ein markantes Element des von Schütte-Lihotzky entwickelten Küchenkonzepts sind die bereits erwähnten Schütten für Zucker, Mehl und andere Grundzutaten (auf dem Foto erkennt man sie an den Handgriffen rechts unten). Die namentliche Doppelung ist freilich purer Zufall …

Die Neuerungen hatten natürlich auch Einfluss auf die soziale Struktur der Familie: Die Küche verlor die Funktion als wohnliche Zentrale, in der man sich zum gemeinsamen Essen traf. Der Esstisch wanderte aus, und da ein eigenes Esszimmer nur in größeren Wohnungen zur Verfügung stand, entstand als Folgeerfindung die Essecke. Während Familie und eventuelle Gäste voller Appetit auf das Essen warteten, war die gestresste Hausfrau in der Küche allein dafür verantwortlich, die Wartezeit nicht allzu lang werden zu lassen.

Inzwischen versuchen ArchitektInnen, die Vorzüge der modularen Küchengestaltung mit dem gemeinsamen Kochen und Essen zu verbinden, indem die Küche mit dem Wohnraum verbunden wird. Entsprechend werden vor allem für die Möbelfronten und andere Sichtflächen edle Materialien präsentiert, die man in einem reinen Funktionsraum kaum einsetzen würde. Frühere Argumente wie z.B. die Beeinträchtigung der Wohnqualität durch störende Küchengerüche lassen sich mit ausgereiften Luftabzugstechniken längst entkräften. Aus dem reinen Arbeitsplatz Küche, wie Schütte-Lihotzky ihn zu optimieren versuchte, wird zusehends ein verbindender Ort der Geselligkeit. 

Leider hat sich auch im Möbelsegment Küche der unschöne Gedanke des geilen Geizes breit gemacht.

Ich weiß auch, dass Vergleiche gerne hinken, aber den Folgenden stelle ich trotzdem immer wieder an:

Niemand findet es erstaunlich, dass wir alle paar Jahre mehrere Zehntausende Euro für ein neues Auto ausgeben, selbst wenn wir darin durchschnittlich kaum mehr als eine Stunde pro Tag verbringen – und das meistens noch allein.

Aber bei der Küche suchen wir nach der Komplettlösung inkl. Geräten und Einbau      (… und wir entsorgen Ihre alte Küche …) für 3.499,-€.

Dieses Denken wird, so meine feste Überzeugung, der Funktion, die eine gute Küche für die ganze Familie haben kann, in keiner Weise gerecht. Und dass eine gut geplante und handwerklich aus guten Materialien gebaute Küche deutlich länger genutzt wird als ein durchschnittliches Auto, liegt auf der Hand. 

Den Vergleich kann man natürlich auch auf das übertragen, was wir in der Küche zu unserer Ernährung zubereiten: Während wir unserem PKW das beste Motoröl gönnen, schauen wir beim Öl für unseren Salat oder Braten kritisch auf’s Preisetikett, wenn es auch nur annähernd das Gleiche kostet. Die Parallelen ließen sich fortsetzen.

Die Behauptung, wirklich gute Lebensmittel und einen entsprechenden Raum für deren Zubereitung und Genuss könnten sich nur Besserverdiener leisten, relativiert sich ziemlich schnell, wenn wir unser Ernährungsbudget mal in’s Verhältnis zu Ausgaben für Dinge setzen, die wir offensichtlich für wichtiger halten als uns selbst und unsere gute Ernährung!