Ulis Culinaria

Jean Anthelme Brillat-Savarin

*1755 Belley, †1826 Paris
  • Das Schicksal der Völker hängt von der Art und Weise ab, wie sie sich ernähren.

  • Sage mir, was Du isst, und ich sage Dir, wer Du bist.

  • Der Tisch ist der einzige Ort, an dem man sich nicht bereits in der ersten Stunde langweilt.

  • Wer seine Freunde einlädt und sich nicht persönlich um die Zubereitung des Mahles bemüht, ist nicht Wert, Freunde zu haben.

  •  Die Entdeckung eines neuen Gerichts bringt für das Glück des Menschen mehr als die Entdeckung eines Gestirns.

  • Jemanden zu bewirten bedeutet, sich während der ganzen Zeit, die er unter unserem Dach verbringt, um sein Wohlbefinden zu bemühen.

Physiologie du goût

Derlei kulinarische Weisheiten bilden als Aphorismes du professeur den Auftakt zu dem Werk Physiologie du goût, das erst kurz vor dem Tod des Autors erscheint, in dem er aber seine über Jahre hinweg gereifte Idee einer von gourmandise sociale und gastronomie (von sozialer Feinschmeckerei und Kultur der Bewirtung) geprägten Gesellschaft präsentiert. Die 20 Aphorismen versteht Brillat-Savarin als ewige Grundlage der Wissenschaft. Er legt in dem Buch seine Überzeugung dar, dass l’art de manger und l’art de la table, die Kunst des Essens und die Kunst des Tafelns, die über das bloße Ernährungsbedürfnis hinausgehen, den ciment de la société bilden, den Mörtel, der die Gesellschaft zusammenhält. Er erweist sich als ein später Jünger des griechischen Philosophen →Epikur, der im 4./3. vorchristlichen Jahrhundert das Streben nach Glück und die geistvolle Erfüllung von Lust zum wesentlichen Antrieb des menschlichen Lebens erklärte.

Nach einer wohlbehüteten Kindheit in einer bürgerlichen Familie und einer gediegenen Schulbildung studiert der junge Jean Anthelme Rechtswissenschaften und lässt sich als Anwalt in seiner Heimatstadt nieder. Er wird Bürgermeister von Belley und Abgeordneter im Regionalparlament. In den Jahren nach der Révolution française von 1789 schließt er sich der opportunistischen Gruppierung der Girondins an und muss mehrmals ins Ausland fliehen, was ihn in die Schweiz, nach England und einige Zeit sogar in die USA verschlägt. Zehn Jahre nach der Revolution erhält er eine einflussreiche Position in den von der armée de Rhin-et-Moselle besetzten deutsch-französischen Grenzgebieten. Schließlich wird er Richter am höchsten französischen Gericht, dem Cour de cassation in Paris, das Amt übt er bis zu seinem Tod aus.

Neben dem beruflichen und politischen Engagement widmet sich Brillat-Savarin ausgiebig allem, was mit guter Ernährung und gepflegter Gastfreundschaft zusammenhängt. Seine kulinarischen Beobachtungen und Erfahrungen hält er immer wieder in Briefen und Aufzeichnungen fest und entwickelt daraus eine eigene Philosophie.

Seine philosophischen Überlegungen ergänzt Brillat-Savarin auch mit ganz praktischen Aspekten des kulinarischen Genießens. Besonderen Wert legt er z.B., nach der Erkenntnis, dass das Auge mitisst, auf eine ansprechende optische Präsentation der erlesenen Speisen, was jedoch in der Folge von manchem Küchenmeister bis zu manieristischer Künstelei getrieben wurde.

Unter anderen sieht er den alten Römer →Lucullus als Vorbild für gute Gastgeberschaft.

Die Physiologie des Geschmacks war von der ersten Auflage an ein verlegerischer Erfolg. Das lag sicher auch daran, dass Brillat-Savarin seine Theorien zwar zuweilen etwas schulmeisterlich darlegt, aber doch durchgehend mit augenzwinkerndem Humor und gesellschaftspolitischer Satire verbindet. Wie für ihn geschaffen erscheint der aus Gastronomie und Philosophie zusammengesetzte Begriff Gastrosoph

Ganz in diesem Sinn hat der für seine Ironie bekannte Schriftsteller und ausgewiesene Feinschmecker Honoré de Balzac Begleittexte für spätere Ausgaben des Werkes verfasst. Das Buch wird bis heute verlegt, in manchen Ausgaben ist der Text mit kongenialen Illustrationen ausgestattet. Im Nachhinein erscheint es erstaunlich, dass Brillat einen anderen Gastrosophen seiner Zeit, nämlich den nur drei Jahre jüngeren Alexandre →Grimod de La Reynière, wohl nie getroffen hat. Dieser exzentrische Adlige machte sich nicht nur mit aufwändigen kulinarischen Inszenierungen einen Namen, sondern hat in seinen Schriften ähnliche Gedanken zum Thema Essen und Trinken festgehalten wie er selbst.

Die Liebe Brillats zu gutem Essen kommt nicht von ungefähr. Das Bugey, der historische Landstrich zwischen Lyon und Genève, hat sie ihm quasi in die Wiege gelegt. Wenige andere Regionen Frankreichs bieten eine solche Fülle an kulinarischen Genüssen. Ein Zentrum, in dem alle diese Köstlichkeiten aus Käsereien, Weinkellern, Gemüsegärten, Räucherkammern und Wurstküchen seit jeher in Perfektion verarbeitet werden, ist →Lyon, nur 60km westlich von Belley und anerkanntermaßen capitale mondiale de la gastronomie! Nicht umsonst hat Balzac das Bugey gerne zum literarischen Schauplatz von Romanen und Erzählungen gemacht.

Neben der Physiologie du goût bleibt der Gastrosoph auch durch zwei nach ihm benannte Köstlichkeiten in Erinnerung.

Lange Tradition hat in Frankreich ein in Kranzform gebackener Hefekuchen, der mit Rum-Sirup getränkt wird und deshalb baba au rhum genannt wird. Der Namensteil baba kommt aus dem slawischen Sprachraum und ist die Kurzform von Babuschka für Großmutter. Und als babka genießt man in Polen einen Kuchen, wie ihn schon die Großmutter gebacken hat …

Kugelhupf-Formen

Der Kuchen soll von dem polnischen König Stanislas →Leszczynski erfunden worden sein, der im 18.Jh. als Duc de Lorraine in Nancy residierte. Als ihm der in den deutsch-französischen Grenzregionen Elsass-Lothringen als Kugelhupf, kougelhopf oder kouglehof beliebte Hefekuchen etwas zu trocken vorkam, gab er ihn zurück in die Küche seines Leibkonditors Nicolas Stohrer. Der tränkte den Kuchen zunächst mit Dessertwein und füllte den hohlen Kern mit crème pâtissière aus.

... nur noch etwas Puderzucker ...

Le Savarin

Begießen mit Rum ...
... und Anschneiden!

Später ersetzte Stohrer den Wein durch Zuckersirup mit Rum. Um 1850 taucht erstmals die Bezeichnung Savarin für eine Variante des Baba au Rhum auf, bei der ein dank besonders vieler Eier sehr luftiger, weicher gâteau (Kuchen) mit Kirschwasser getränkt wurde und mit crème fouettée (Schlagsahne) und/oder crème pâtissière, einer puddingähnlichen Vanillecreme, serviert wurde. 

Seit 1730 bietet die Pâtisserie Stohrer in Paris den Baba au rhum nach dem Original ihres Gründers Nicolas an. Die Konditorei befindet sich in der rue Montorgeuil, einem der wenigen Orte in Paris, an denen noch etwas vom kulinarischen Flair des alten →Hallenviertels zu spüren ist.

Heute gehört der Savarin zum Pâtisserie-Standard. Auch im Grand dictionnaire de cuisine von AlexandreDumas, der sich u.a. auf Brillat-Savarin beruft, sind baba und cougloff vertreten.

Häufig wird ein Savarin mit eingelegten oder pochierten Früchten serviert. So macht es auch der unfreiwillige Agent Thomas Lieven in Johannes Mario Simmels amüsantem Roman Es muß nicht immer Kaviar sein (→Baker). Um mit einem französischen Bankier ins Schwarzmarktgeschäft des Paris von 1943 zu kommen, lädt Lieven diesen zu einem üppigen in Rotwein geschmorten Schweineschinken ein. Der als Dessert gedachte Savarin mit erhitzten Pfirsich-Hälften kommt allerdings erstmal nicht mehr auf den Tisch: Der Gast ist über die Unbestechlichkeit Lievens so verärgert, dass er das Treffen fluchtartig nach dem Hauptgang abbricht.

Im Küchenzubehör-Handel bekommt man die passenden Ring-Backformen in verschiedenen Größen als Savarin-Form. Die kleineren werden auch gerne zum Anrichten des gestürzten Reisrandes verwendet, in dessen Zentrum sich ein ragout fin oder ähnliches so appetitlich servieren lässt.

Die wellige Außenform und das Loch in der Mitte des Kugelhupf oder Savarins haben nicht nur optische Funktion. Beides vergrößert die Oberfläche und lässt den Teig gleichmäßiger durchbacken.

Moule à Savarin

Das gallische Dorf von Asterix und Obelix, das immer wieder dem Imperium Romanum die Stirn bietet, ist von vier römischen Garnisonen umzingelt. Einer davon haben die Autoren Uderzo/Goscinny den Namen Babaorum gegeben, eine von vielen kulinarischen Anspielungen in der kultigen Comic-Reihe.

Die Untertanen Cäsars haben, wie wir von Apicius und anderen wissen, auch schon Kuchen gebacken, den sie gatum nannten. Immerhin haben die wehrhaften Gallier hiervon ihren gâteau sprachlich abgeleitet. Aber für einen baba au rhum hätte damals noch der Zuckerrohrschnaps gefehlt, der erst nach den Entdeckungen von Kolumbus den Kuchen saftig machen konnte.

Le Brillat-Savarin

In den Schriften von Brillat-Savarin spielt der nach ihm benannte Kuchen – wie auch der im Folgenden beschriebene Käse – keine besondere Rolle.  Aber beide passen ohne Zweifel zu allem, was dieser Genuss-Philosoph als Voraussetzungen guten Genießens dargelegt hat!

Einer der 20 oben erwähnten Aphorismen im Vorspann der Physiologie du goût lautet: Un dessert sans fromage est une belle à laquelle il manque un œil, ein Nachtisch ohne Käse ist wie eine Schöne, der ein Auge fehlt. Und allein in seiner Heimatregion hatte Brillat-Savarin schon damals eine riesige Auswahl an Käsereispezialitäten zur Verfügung.

General Charles de Gaulle, von 1959 bis 1969 der erste Président de la Cinquième République, soll einmal gestöhnt haben: Wie wollen Sie ein Land regieren, in dem es 246 verschiedene Käse gibt?

Dabei ist de Gaulles Seufzer angesichts der tatsächlichen Käsevielfalt genauso eine Untertreibung wie die Charakterisierung Frankreichs als Land der 300 Käse. Die genaue Anzahl französischer Käse-Sorten ist nie wirklich gezählt worden, aber noch in den letzten Jahren schwanken die Angaben zwischen rund 1.000 und bis zu knapp 2.000.

Allerdings, und das unterstreicht den hohen Qualitätsanspruch, haben nur 45 Käsespezialitäten die Anerkennung als →AOP (Appellation d’Origine Protégée) und nur 6 Sorten die →IGP (Indication Géographique Protégée) nach EU-Recht erhalten.

Ebenfalls nur sechs Käse tragen die in Frankreich begehrte Auszeichnung mit dem →Label Rouge.

Seit 2017 ist auch die Bezeichnung eines Weichkäses als Brillat-Savarin IGP offiziell anerkannt.

Dieser Kuhmilchkäse wurde, noch ohne besonderen Namen, schon im frühen Mittelalter in Klöstern in der Normandie und im Burgund produziert und zeichnet sich durch einen extrem hohen Fettgehalt von mindestens 72% und damit verbundene Cremigkeit aus. Dies erreichen die Käsereien durch Anreicherung der Milch mit Rahm. Der Brillat-Savarin ist somit ein fromage triple-crème, ein Käse mit Dreifach-Rahmstufe.

Er kommt schon wenige Tage, nachdem die Milch mit Lab versetzt wurde, auf den Markt. Selbst für die höchste Reifestufe affiné braucht er höchstens neun Tage, hat dann aber schon einen feinen weißen Edelschimmel auf der Oberfläche angesetzt. 

Das elfenbeinfarbene Innere zerfließt im Anschnitt und erst recht auf der Zunge und schmeichelt dem Gaumen mit buttrig-nussigen Aromen.

Um 1930, also ziemlich genau zum hundertsten Erscheinungsstag der Physiologie des Geschmacks, benannte der Pariser affineur (Käse-Veredler) Henri Androuët als Erster einen solchen Käse nach dem berühmten Gastrosophen, in der nicht unberechtigten Hoffnung, damit Ansehen und Absatz der Spezialität zu steigern.

Heute ist die IGP auf bestimmte Bereiche von Bourgogne und Normandie beschränkt. Nicht nur in Frankreich selbst ist der Brillat-Savarin beliebt. Rund ein Drittel der Produktion wird, trotz der sehr begrenzten Lagerfähigkeit, exportiert, nicht zuletzt auch nach Deutschland.

Im Großen Wörterbuch der Küche von →Dumas wird Brillat-Savarin sehr häufig zitiert. Aber Dumas widmet ihm auch ein besonderes Omelette-Rezept. Dieses zu realisieren ist heute allerdings etwas schwierig, da eine wesentliche Zutat nur noch selten angeboten wird, nämlich Fischmilch. Das ist der Samen von männlichen Fischen, häufig verwendete man früher beispielsweise Herings-, Dorsch- oder Karpfenmilch. Wird einem Fischmännchen der sog. Milcher oder Melcher entnommen, so bildet er ein weiches beutelartiges Gebilde, das im Ganzen verarbeitet werden kann. Wenn er nicht sofort in die Pfanne oder den Topf kommt, lässt er sich mit Salz eine Zeitlang konservieren. Ansonsten kann man ihn, paniert oder natur, wie ein Spiegelei kurz braten, oder man arbeitet die Milch als Fischgeschmacks-Verstärker in Saucen zu Fischgerichten ein. Im Fischhandel bekommt man Milcher am ehesten auf Vorbestellung.

Laitance -

Karpfen

- Fischmilch

Thunfisch

Dumas blanchiert die laitances de carpe (Karpfenmilch, er rechnet für 6 Personen zwei) zunächst, was ihre Konsistenz etwas verfestigt. Dann hackt er sie mit thon (Thunfisch) und einer Schalotte sehr, sehr fein coupée en atomes! Die so entstandene Mischung wird kurz in reichlich Butter sautiert und zu 12 verquirlten Eiern gegeben. Noch einmal gut verrührt, wird die Masse in der heißen Pfanne zum Omelette au Thon de Brillat-Savarin ausgebacken. Garniert wird mit einem ordentlichen Stück Butter, das mit gehackter Petersilie und Schnittlauch verknetet wurde.

Dazu empfiehlt Dumas einen guten alten Wein, et on verra merveilles – und man wird etwas Wunderbares erleben.

Das hätte Brillat-Savarin selbst sicher genauso gesehen!